Rara

28. März 2014

Wie alle Menschen der Bibliothek bin ich in meiner Jugend gereist, ich bin gepilgert auf der Suche nach einem Buch, vielleicht dem Katalog der Kataloge…

Jorge Luis Borges: Die Bibliothek von Babel

Kennst Du die Suche nach einem Buch? Manchmal endet sie ganz unvermittelt. Du suchst das Buch schon lange, hast es vielleicht sogar vergessen und auf einmal steht es vor Dir: in einem Regal einer Bibliothek. Eigentlich hast Du ein anderes Buch gesucht. Doch weil Dich immer noch die gleichen Themen und Fragen beschäftigen, kommst Du zufällig in die Nähe des lange schon gesuchten Buchs. Da steht es. Vielleicht erkennst Du es sofort, vielleicht brauchst Du eine paar Sekunden. Egal. Hättest Du zuvor einen Blick in den Katalog geworfen, wäre Dir die Überraschung erspart geblieben – und auch das Glück, das Buch plötzlich in den Händen zu halten.

Manchmal kommt dieses Glück nicht plötzlich, sondern in einer Form, mit der Du nicht gerechnet hast. Einmal, in Tübingen, wartete eine Polemik aus dem 16. Jahrhundert auf einen Doktoranden, der eine Leselücke zu schließen beabsichtigte. Wie bestellt, lag das schmale Büchlein vor ihm. Dem ersten Eindruck nach war es, wie erwartet. Aber dann leise Zweifel: Es war etwas eigentümlich eingebunden und auch etwas dicker als gedacht. Beim ersten Durchblättern zeigte sich, dass ein Bogen fehlte bzw. ersetzt worden war durch eine akurate Abschrift des gesamten Bogens, die an dessen Stelle eingebunden worden war. Undenkbar heute, auch in handwerklicher Hinsicht: Später erst (in einer anderen Bibliothek) wurde ihm nämlich deutlich, wie exakt der Kopist gearbeitet hatte, Zeile für Zeile – ganz so, als wär’s eine heilige Schrift und nicht das Pamphlet eines elenden Streithammels.

Manchmal kommt dieses Glück erwartet. Das tut ihm keinen Abbruch. Vor vielen Jahren habe ich Helmut Zedelmaiers großartige Studie Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta gelesen. Wenige Tage später kam ich nach Göttingen, wo eben die historische Aufstellung des Altbestands erfolgt war. Hier ereilte mich ein doppeltes Glück: da mir die Systematik klar war, musste ich in den Katalog schauen, welche Signatur Possevinos Bibliotheca selecta hat. Ich konnte einfach die Regale abgehen und hielt das Buch schon bald in den Händen, um mir klar zu machen, was Zedelmaier erörtert hatte und was ich zudem von dem Buch wissen wollte.

Dieses Glück aber war und ist abhängig vom Pilgern, von der Sehnsucht oder wie auch immer Ihr es nennen wollt. Es ist Folge der Hoffnung darauf, dass sich endlich eine Wissenslücke schließt oder dass sich vielleicht sogar ein ganz neuer Einblick ergibt. Dieses Glück entsteht aber nicht deswegen allein, sondern weil das Buch nicht einfach verfügbar war, weil es Mühe gemacht hat, weil man den Eindruck hat, es sich geduldig erarbeitet zu haben – nicht in intellektueller Hinsicht, sondern ganz physisch. Vielleicht korrespondiert diese Mühe mit der Einsicht, wie wundersam es ist, dass das Buch es durch die Jahrhunderte geschafft hat (manchmal leicht versehrt und doch wertgeschätzt, wie die Streitschrift in der Tübinger UB).

In dem Moment aber, da alles verfügbar ist, hat das Glück ausgespielt. Borges war das schon klar:

Es gibt amtliche Sucher, Inquisitoren. Ich habe sie in der Ausübung ihres Amtes gesehen: Sie sind immer erschöpft; […]; sie sprechen mit dem Bibliothekar von Galerien und Treppen; manchmal greifen sie nach dem nächststehenden Buch und blättern darin […]. Offensichtlich erwartet niemand, irgend etwas zu entdecken.