Schattensitzer

Der verwirrte alte Dramatiker, der noch einmal ins Theater schleicht, morgens vor der Probe sich im Parkett verbirgt, hintere Reihe, um die besondere Atmosphäre vor der Probe zu inhalieren. Requisiteur und Inspizient erzählen sich was, Assistent blickt ins Rollenbuch, Kostümbildnerin sortiert Entwürfe, Bühnenarbeiter richten die Probendekoration auf, Beleuchter rufen von der Galerie. Dieser nicht definierbare Raum, Zeitraum der Unordnung vor der Probe – der alte Mann schließt die Augen. Die vielen Male, die er im Zuschauerraum alleine saß, bevor die Probe zu einem neuen Stück von ihm begann. Schließlich wird er bemerkt, der Assistent macht da jemanden im Dunkeln aus, ein Unbefugter im Parkett, er geht zu ihm, der Alte wird sanft, aber nachdrücklich hinausgebeten.

Als ich diese Sätze in Botho Strauß‘ Das Schattengetuschel (S. 229f.) gelesen habe, erinnerte ich mich an ein Praktikum, das ich 1996 an der Schaubühne absolviert habe. Klaus Michael Grüber probte einen Einakter von Vladimir Nabokov mit dem Titel Der Pol. Der Abend sollte eine Verneigung vor der alten Schaubühnenzeit werden.

Während der Probenphase kam an einem Nachmittag Botho Strauß vorbei. Ich konnte den Proben leider nicht beiwohnen, Grüber ließ meistens auch nur diejenigen in den Saal, die direkt mit der Produktion zu tun hatten. Aber ich konnte während eines längeren Gesprächs mit Ellen Hammer in einer Umbaupause einen Blick in den Saal werfen und sah Strauß sehr ruhig und konzentriert im Parkett sitzen. Dieses Bild hat sich mir sehr eingeprägt.

Als ich Strauß‘ Schattensitzer gelesen habe, erinnerte ich mich daran. An Botho Strauß, der diesen „Zeitraum der Unordnung“ (egal ob vor oder während der Probe) genießt. Dass „der Alte“, wie der Erzähler Strauß‘ Alter Ego hier nennt, schließlich herausgebeten wird, weil er nicht mehr dazugehört, weil man vielleicht nicht einmal mehr weiß, wer er ist und ihn für einen Verirrten hält, ist die Pointe der Erzählung, auch wenn ich nach der Premiere 1996 den Eindruck, dass die alte Schaubühne allmählich in die Jahre gekommen war.

Aber Melancholie stellt sich gleichwohl ein. Auch deswegen, weil ich mir nicht sicher bin, ob einer der gegenwärtigen großen Theaterautoren in 20 Jahren so wohl formuliert und dermaßen klar die eigene Lage bilanzierend über seine alte Liebe schreiben wird.

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Die Besetzung von Der Pol erinnerte an die besten Zeiten der Schaubühne. Die Inszenierung, die meinem Eindruck gleichwohl insgesamt einen zu geringen Nachhall hatte, wurde später in Frankreich gezeigt. Christoph Rüter hat diese Aufführung dokumentiert. Zumindest in meiner Erinnerung war die Inszenierung in der Schaubühne weit dunkler, mit viel mehr Grau- und Blautönen ausgeleuchtet.

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