Mein erster Theaterabend seit Monaten hat viel Spaß gemacht. Das lag nicht zuletzt an der guten Inszenierung von Matthias Brandts Roman "Blackbird". Meine vollständige Kritik findet Ihr auf nachtkritik.de. Da die Aufführung auch akustisch ihre Reize hat, lohnt es sich, ergänzend Martin Burkerts Kritik für den WDR zu hören.
Endlich wieder im Theater!
8. September 2020Polit-Theater
10. Januar 2020War gestern nach langer Zeit mal wieder für nachtkritik.de im Theater und habe in Münster ein Stück über den vor gut 15 Jahren verstorbenen Politiker Jürgen Möllemann gesehen. War nicht nur wegen des Stoffes interessant, sondern auch, weil der Stücktext sich irgendwo zwischen szenischer Biographie und Textfläche bewegt. Ob’s das überzeugt, könnt ihr bei nachtkritik.de nachlesen.
Erinnerungen an erste und jüngste Lichtenberg-Lektüren
2. Januar 2020Anfang Juli letzten Jahres hatte ich das Glück, die Tagung der Lichtenberg-Gesellschaft in Osnabrück eröffnen zu dürfen. Als ich zur Vorbereitung meine Lichtenberg-Ausgabe wieder in die Hand nahm – die Zweitausendeins-Ausgabe von Wolfgang Promies –, erinnerte ich mich an mein Studium in Göttingen.
Im Sommer 1994 war das. Damals habe ich am Deutschen Seminar in Göttingen meine Zwischenprüfung absolviert und mir anschließend die Lichtenberg-Ausgabe angeschafft. Unter dem Dach einer kleinen Wohnung weit draußen in Weende begann ich zu lesen. Dabei hat mir Promies‘ Ausgabe die Augen für die Bedeutung von wissenschaftlichen Ausgaben geöffnet. Ich hatte mich in den Wochen davor mit ganz unterschiedlichen Interpretationen von Döblins Berlin Alexanderplatz für die Zwischenprüfung beschäftigt. Aber erst ohne jeden konkreten Sinn und Zweck angeschaffte Lichtenberg-Ausgabe sensibilisierte mich für das Kerngeschäft der Philologie. In dieser Zeit, Mitte der 1990er Jahre, hatten Poststrukturalismus und Kulturwissenschaft Konjunktur. In Göttingen aber stand weiterhin das philologische Kerngeschäft in Blüte. 1994 publizierte Albrecht Schöne die erste Auflage seiner Faust-Ausgabe. Kurz nachdem ich mir die Lichtenberg-Ausgabe gekauft hatte, stellte mich Wilfried Barner als Hilfskraft für seine Lessing-Ausgabe im Deutschen Klassiker-Verlag ein. An all diese Momente erinnerte ich mich, als ich ein Vierteljahrhundert später meine Lichtenberg-Ausgabe zur Vorbereitung der Begrüßung wieder einmal in die Hand nahm.
Doch selbstverständlich nahm ich die Ausgabe nicht nur aus dem Regal, um in Erinnerungen zu schweifen. Vor allem sollte sie mir einen historischen Blick zurück auf Lichtenbergs Aufenthalt in Osnabrück vom Spätsommer 1772 bis zum Februar 1773 ermöglichen. Zwei Punkt interessierten mich besonders.
1. Die Lichtenberg-Tagung in Osnabrück hatte als Motto eine Notiz aus Heft B:
„Er war so witzig, daß jedes Ding ihm gut genug war zu einem Mittelbegriff jedes paar andere Dinge mit einander zu vergleichen.“
Promies bezieht im Kommentar diese Sentenz auf Lichtenberg selbst, auf den ‚Ähnlichkeitssucher‘. Mich veranlasste das gerade nicht über Ähnlichkeiten, sondern über Differenzen nachzudenken – und zwar denen zwischen Lichtenberg und Justus Möser. Der war 22 Jahre älter, was vielleicht erklärt, warum sich Lichtenberg über ihn meinem Eindruck nach zwar ausgesprochen höflich und anerkennend, gleichwohl aber meist distanziert äußert. So schreibt Lichtenberg an Hollenberg im Juli 1781:
„Mösers Aufsatz habe ich mit vielem Vergnügen gelesen, manches, was mir nicht darin gefällt, würde mir gewiß gefallen, wenn ich Mösers Einsichten hätte.“
Lichtenberg betont den Unterschied zwischen den beiden. Die heute in der Forschung immer mehr betonte Komplexität und Differenziertheit der deutschen Aufklärung war also auch den Aufklärern selbst bereits bewusst.
2. Lichtenberg beschreibt seine Aufgabe in Osnabrück in einem Brief vom Januar 1773 folgendermaßen:
„Ich habe mich vergangenes Jahr teils in Hannover und teils hier auf des Königs Befehl aufgehalten, um die Lage der beiden Städte zu bestimmen.“
Lichtenbergs Aufenthalt in Osnabrück ist also ein konkreter Vorläufer von dem, was Daniel Kehlmann mit Blick auf einen anderen großen Göttinger – Carl Friedrich Gauß – und den 2019 besonders geehrten, noch größeren Preußen, Alexander von Humboldt, die „Vermessung der Welt“ genannt hat. Interessant scheint mir, dass diese Vorgeschichte der Globalisierung, die bei Lichtenbergs Aufenthalt in Osnabrück in nuce beobachtet werden kann, zu einem Zeitpunkt erfolgte, da das Fürstbistum Osnabrück reichsrechtlich noch gar nicht Teil vom Kurfürstentum Hannovers war. Lichtenberg und Osnabrück – das führte mir die für die Aufklärung so typische Ungleichzeitigkeit vor: Erkenntnisse und vor allem Erkenntnisinteressen, die mit der politischen Realität nur begrenzt in Einklang gebracht werden können.
Es gehört freilich auch zur wissenschaftlichen Redlichkeit, sich einzugestehen, dass Lichtenbergs Verhältnis zu Osnabrück selbst deutlich weniger akademisch war. Noch im September erklärte er Kaltenhofer:
„Nun bin ich schon 13 Tage in Osnabrück, wollte Gott, daß ich so viele Wochen dagewesen wäre.“
Und an Johann Christian Dietrich schrieb er im Februar von Hannover aus:
„Ich habe mich endlich aus Osnabrück weggeschlichen, wie Jener sich aus der Schenke morgens um 3 Uhr. Ich habe allerlei westfälische Pretiosa für Dich bei mir, als Pumpernickel, Schinken etc.“
Im Heft C notierte sich Lichtenberg ein sprachliches Detail, das er in Osnabrück aufgeschnappt hatte und das vielleicht deutlich macht, warum es bis heute eine Freude ist, ihn zu lesen:
„Herr Westenhof in Osnabrück erzählte mir, daß ihn einmal ein Bauer gefragt hätte: Ich hebbe hört Ihr sollt elendigen schön sprecken. Elendig schön ist eine sehr gemeine Redensart und sagt so viel als sehr schön.“
Lichtenberg ist einfach ein elendig schöner Autor.
Keine „Verbrauchsliteratur“
15. November 2019Ende Oktober hat Felix P. Ingold in der NZZ weiten Teilen der Gegenwartsliteratur vorgeworfen, dass sie nur für den Moment schreibe. Ulrich Blumenbach hat dem zwar nicht widersproch, aber versucht, dieses Ansinnen zu verstehen. Ich denke aber, dass Ingolds Impuls grundsätzlich nicht berechtigt ist. Meine Begründung hat die NZZ jetzt veröffentlicht.
Klassengesellschaft reloaded
15. September 2019Aktuell kann im künstlerischen wie im akademischen Diskurs eine Renaissance des Klassen-Begriffs beobachtet werden. Sie war der Ausgangspunkt für ein Arbeitsgespräch der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft. Das Gespräch fand im Literaturforum im Brecht-Haus, Berlin, statt und wurde von Falk Strehlow und Wolfram Ette zusammen mit mir am 10. und 11. September 2019 veranstaltet. In einem kurzen Statement habe ich einleitend versucht, anhand zweier Beispiele zu skizzieren, wie der Klassen-Begriff im Gegenwartstheater thematisiert wird, um zu fragen, ob sich Bezüge zu Heiner Müller herstellen lassen.
1. Beispiel: Im April letzten Jahres hatte im Neumarkttheater Zürich das Stück Café Populaire von Nora Abdel-Maksoud Premiere. Es beginnt mit folgendem „Prolog“:
Rampe. Zum Publikum.
Charmant und einladend.
Püppi: Hi
Aram: Hi
Don/Svenja: Hi
Don: Das Thema des heutigen Abends ist Klassismus. Wir nennen es auch: Den unbekannten „Ismus.“ Ja, nicht Klassizismus, Klassismus.
Püppi: Hat zu tun mit Klasse.
Svenja: Sozialer Klasse.
Don: Richtig. Da gibt es zum Beispiel diese ganzen TV-Serien über die Unterschicht, das ist übrigens schon klassistisch, „Unterschicht“, wenn man immer von oben nach unten spricht, Frauentausch und so. Jetzt im Moment ist eher Rassismus en vogue. Und Sexismus. Vor allem am Theater.
(Text hier und im Folgenden nach Nora Abdel-Maksoud:Café Populaire, Beilage in Theater heute August/September 2019).
Abdel-Maksouds Stück beginnt mit einer Szene, die sich souverän der Theatermittel des ausgehenden 20. und des frühen 21. Jahrhunderts bedient: direkte Publikumsansprache, tendenziell diskursiv, mediale Authentizitätsdiskurse thematisierend und damit reflektierend. Schließlich und nicht zuletzt eine anständige Prise Metatheatralität. Auf diese Weise thematisiert das Stück einen aktuellen Diskurs, den Klassismus-Diskurs, den zuletzt Patrick Eiden-Offe grundlegend erforscht hat (in: Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats, Berlin: Matthes und Seitz 2017). Café populaire wählt Theatermittel, denen gewiss nicht abgesprochen werden kann, dass sie aktuell wertgeschätzt werden und dass sie zeitgemäß sind. Die Verbindung zwischen Form und Inhalt überzeugt dadurch, dass wiederholt klassistisches Sprechen sowie diskriminierende Ausdrucksweisen inszeniert werden. In der Schlussszene schießt Svenja in einem Monolog eine Reihe von Prekariatswitzen ab und beendet das Stück mit einer erneuten Hinwendung an das Publikum provokant: „Wieder Scherz. Ich mach nur Witze. Warum man hier so gut Witze über Arme machen kann? Weil sie sich die Karten eh nicht leisten können.“
Der metatheatrale Witz, mit dem Abdel-Maksoud hier arbeitet, gleicht dem, den schon Heiner Müller in Germania Tod In Berlin genutzt hat:
Clown 1 böse: Ich werde dir zeigen, was eine Naturgewalt ist. Schlägt ihn. Ich bin der erste Diener meines Staates.
Clown 2 leckt an dem Krückstock und fängt an, ihn aufzuessen. Den Stock essend, richtet er sich an ihm auf, bis er stocksteif dasteht. Marschmusik, die in Schlachtendonner übergeht. Der Bühnenhintergrund öffnet sich vor einem Feuer, aus dem Sprechblasen aufsteigen: JEDER SCHUSS EIN RUSS JEDER TRITT EIN BRIT JEDER STOSS EIN FRANZOS und in das Clown 2 im Paradeschritt marschiert.
Clown 1 Ich hatt es mir eigentlich anders vorgestellt, weil ich französisch spreche und sehr aufgeklärt bin. Aber es geht natürlich auch.
Der Hund, ebenfalls im Paradeschritt, folgt Clown 2.
Clown 1 zu dem Hund: ET TU, BRUTE!
(Heiner Müller: Germania Tod in Berlin, Berlin 1977, S. 46.)
2. Beispiel. Anfang September hatte Kevin Rittbergers neues Stück IKI.radikalmensch im Rahmen des Festivals Spieltriebe am Theater Osnabrück Premiere. Auch in Rittbergers Drama wird „Klassenpolitik“ thematisiert, ergänzt um das Thema Klimapolitik. Im Zentrum des Stücks von Rittberger stehen die Dialoge zwischen Peter Vogel und der Titelfigur IKI.radikalmensch: eine Intime Künstliche Intelligenz, die aus einer Sexpuppe weiterentwickelt wurde. In einem Monolog schildert Peter eine Begegnung während einer Dienstreise:
Und dennoch schämte ich mich, als ich einem Bauern im Regenwald gegenüber stand, und ihm erklärte, dass der Brandrodungswanderfeldbau nicht mehr klimaverträglich war. Er betrachtete mich von oben bis unten – der weiße Mann erklärt dem Ureinwohner, was er zu tun und zu lassen hat. Aber die Mission war unverzichtbar, darauf hatte sich die progressive Staatengemeinschaft geeinigt, unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht und Religion.
(Alle Zitate aus dem Bühnenmanuskript von Rittbergers Stück.)
Diese Szene gleicht einem monologischen Ausschnitt aus Heiner Müllers Der Auftrag, die Der Mann im Fahrstuhl heißt und künstlerisch schon vielfach bearbeitet wurde:
Ich verlasse den Fahrstuhl beim nächsten Halt und stehe ohne Auftrag, den nicht mehr gebrauchten Schlips immer noch lächerlich unter mein Kinn gebunden, auf einer Dorfstraße in Peru. Trockener Schlamm mit Fahrspuren. … Auf einem grasüberwachsenen Bahndamm basteln zwei Knaben an einer Kreuzung aus Dampfmaschine und Lokomotive herum, die auf einem abgebrochenen Gleis steht. Ich Europäer sehe mit dem ersten Blick, daß ihre Mühe verloren ist.
(Aus: Heiner Müller: Herzstück. Berlin 1983, S. 60-62.)
Nora Abdel-Maksouds Stück entwickelt formal theatrale Verfahren weiter, die Müller spätestens seit Ende der 1960er Jahre literarisch initiiert hat und die auf dem Theater in das mündeten, was gemeinhin postdramatisches Theater genannt wird und was nach meinem Dafürhalten literaturwissenschaftlich als radikale Episierung begriffen werde sollte.
Kevin Rittbergers Stück folgt Müller weniger ästhetisch nach. Vielmehr ahmt er produktiv eine Szene aus Müllers Drama nach, die konzentriert die Widersprüchlichkeit, ja den Widerstreit verschiedener politischer Anliegen vorführt und zum Ausdruck bringt und dabei – auch das erinnert an Müller – nicht frei von Defaitismus ist.
Was die Beispiele damit zeigen, ist die anhaltende formale und – im Fall Rittbergers auch – thematische Aktualität Müllers. Gleichzeitig scheinen Müllers Ausdrucksweisen mit politischen Positionen assoziiert zu werden. Allerdings überrascht das mehr als es überzeugt, denn die politischen Verhältnisse haben sich seit Müllers radikalen Textexperimenten doch entschieden verändert, so dass sich die Frage stellt, ob seine formalen Angebote für die Gegenwart weiterhin gültig sind oder ob es nicht vielmehr an der Zeit wäre, neue Formen zu suchen. Das Arbeitsgespräch hat das immer wieder thematisiert. Die Antworten waren alles andere als einhellig.
© fkhuhn
Am zweiten Tag hatte ich abends das Glück, das neue Buch von B.K. Tragelehn, Roter Stern in den Wolken 2, vorstellen zu dürfen und mit ihm zusammen über sein Buch zu sprechen. Es ist immer wieder eine ganz besondere Erfahrung, mit Tragelehn über seine Arbeiten, seine Zusammenarbeit mit Heiner Müller und über seine Erfahrungen mit Brecht zu reden, bei dem er 1955 Meisterschüler wurde.
Tragelehns neues Buch beginnt mit einem klugen Essay über Brecht und Benjamin, in dem sich eine Schilderung findet, die das Arbeitsgespräch vielleicht ganz gut zusammenfasst:
Selbst Grundbegriffe führten jetzt in die Irre. Seit Jahrtausenden, seit die Menschheit der Arbeitsteilung gehorchend in Klassen gespalten war, die einander entgegen standen, hat sie so oder so oder so geträumt von einer Wiederkehr der Gemeinschaft: den Traum vom Kommunismus. Seit Marx wurde die Erforschung konkreter Voraussetzungen für die Realisierung solchen Traums Gegenstand des Denkens. Das hat man Marxismus genannt. Und Marx sagte, in elegantem Französisch, dass er jedenfalls kein Marxist sei: Tout ce que je sais, c’est que je ne suis pas Marxiste. Das erinnert mich an Brechts Antwort, als sich ihm im Theater nach einer Probe eine Mann mit den Worten vorstellte: Ich bin ein Brechtverehrer. Brecht sagte: Ich nicht.
(B.K. Tragelehn: Roter Stern in den Wolken 2. Berlin 2019, S. 11.)
Fremdgehen
3. Januar 2019Dass ich hier viel zu selten publiziere, seht Ihr ja selbst. Das liegt auch daran, dass ich über meine Theaterbesuche meist auf nachtkritik.de schreibe. Das wissen die meisten von Euch auch. Zuletzt wurde da beispielsweise eine Kritik einer tollen Inszenierung von Michael Heicks online gestellt. Heicks hat überzeugend Pink Floyds Dark Side of the Moon mit einer nachdenklich stimmenden Erzählung von Ray Bradbury gekreuzt.
Neu ist aber, dass ich jetzt auf nachtkritik.de über eine philologische Frage geschrieben habe, konkret über http://www.faustedition.net/ – nachdem darüber ja neben viel klugen Dingen auch schon gehörig viel inkompetenter Blödsinn publiziert wurde. Wenn Ihr wissen wollt, wie es aussieht, wenn ich meinem eigenen Blog untreu werden, dann geht doch auf nachtkritik.de.
Unendlichkeit
27. September 2018Kommentierung kommt niemals zu einem Ende. In den Welten des interpretatorischen und kritischen Diskurses zeugt […] ein Buch das andere, bringt ein Essay den anderen hervor, setzt ein Artikel den anderen in die Welt. Die Mechanik der Unaufhörlichkeit ist die der Schwärme der Wanderheuschrecke. Monographie zehrt von Monographie, Vision von Revision.
George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Übers. v. Jörg Trobitius. München, Wien 1990, S. 60.
Steiners hier geäußerte Verachtung des Sekundären, der mitgeteilten Exegese und der daraus resultierenden Unendlichkeit hat mich lange und nachhaltig beschäftigt. Hat er nicht recht, schon allein ganz quantitativ? Führt nicht jede Lektüre von Forschungsliteratur oder Kommentaren unweigerlich dazu, dass für die wichtigen, großen, vielleicht gar wahren Texte weniger Zeit bleibt? Und führt das nicht zugleich dazu, dass weniger Zeit zur eigenen Urteilsbildung bleibt?
Ein anderer großer Leser, Alberto Manguel, sieht das deutlich entspannter, indem er auf das historische Bewusstsein der Kommentatoren schon seit dem Spätmittelalter hinweist:
Die humanistischen Gelehrten des ausgehenden Mittelalters bereiteten dann der Erkenntnis den Boden, dass der Text (auch Platons Dialoge über die Thesen des Sokrates) und alle nachfolgenden Kommentare wechselnder Lesegenerationen nicht nur eine einzige Deutung, sondern eine nicht endende Kette von Deutungen ermöglichte.
Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens. Übers. v. Chris Hirte. Frankfurt/M. 2008, S. 168.
Beide Positionen eint die Einsicht in die Unendlichkeit des Lektürevorgangs und die daraus resultierende Verbunden- und letztlich auch Vernetztheit von Texten. Sie beschreiben also Dynamiken, die für die Intertextualitätstheorie fundamental wurden. Gerade aber der Blick auf die zeitlichen Dimensionen führt zugleich auch vor, wie sehr Steiners Unterscheidung von Primärem und Sekundärem nicht mehr als ein individuelles Geschmacksurteil ist.
Jüngst las ich ein Gedicht von B.K. Tragelehn:
BEIM WIEDERLESEN DER BUCKOWER ELEGIEN
Dunkel steigt auf, schwarz steht Geäst
Vorm helleren Himmel, dann wird auch
Der schwarz und Sterne winken weit her
Nacht hat uns eingefangen und für lange.
Brecht las bei Horaz, les ich, daß selbst
Die Sintflut nicht ewig gedauert hat.
Und wieder werden die schwarzen Gewässer verrinnen.
Und wieder werden wenige länger dauern.
(1990)
B.K. Tragelehn: NÖSPL. Gedichte 1956-1991. Frankfurt/M. 1996, S. 143.
Tragelehn setzt sich mit seinem Gedicht explizit mit Brechts letztem Gedicht der Buckower Elegien auseinander:
BEIM LESEN DES HORAZ
Selbst die Sintflut
Dauerte nicht ewig.
Einmal verrannen
Die schwarzen Gewässer.
Freilich, wie wenige
Dauerten länger!
Bertolt Brecht: Die Gedichte. Hg. von Jan Knopf. Frankfurt/M. 2000, S. 300.
Indem das „Ich“ in Tragelehns Gedicht Brechts Horaz-Lektüre (erneut?) liest, beginnt es, über Wiederholungen von Ereignissen, von Zeit also, nachzudenken. Tragelehns Gedicht ist damit eins, das nicht nur selbst die Unendlichkeit der Lektüre in Szene setzt und also Steiners Unterscheidung in Primäres und Sekundäres dekonstruiert. Zugleich führt Tragelehns Gedicht vor, wie durch die Reflexion über die verschiedenen Lektüren der Diskurs nicht nur fortgesetzt, sondern vor allem immer facettenreicher wird.
Das zeigt ergänzend ein Gedicht, das Tragelehn hier nicht nennt, an das er aber vielleicht dachte, als er sein metapoetisches Gedicht schrieb. Es ist von Heiner Müller:
GESPRÄCH MIT HORAZ
Silbenzähler beiläufig dein Vers unterm Schritt der Kohorten
Die Kohorten wo sind sie Mein Vers geht ins zweite Jahrtausend
Heiner Müller: Warten auf der Gegenschräge. Gesammelte Gedichte. Hg. von Kristin Schulz. Berlin 2014, S. 17.
Müllers Horaz-Lektüre ist keine, die über das Vergehen der ‚Sintflut‘ nachdenkt, sondern eine, die gewissermaßen gegen die Sintflut darauf vertraut, dass die Verse bleiben. Hoffnung im Fatalismus gewissermaßen. Ergänzend führt Tragelehns Gedicht vor, dass diese Hoffnung eine Voraussetzung hat: Lektüre und die potentielle Unendlichkeit der produktiven Rezeption.
Biographismus
14. September 2018Im Mai hat Christian Kracht mit seiner Poetikvorlesung in Frankfurt nicht nur für Furore gesorgt (eine Dokumentation der zahlreichen Zeitungsartikel dazu wäre ein eigener Beitrag). Er hat zugleich nahegelegt, zumindest sein Werk biographisch zu interpretieren. Das setzt natürlich voraus, dass der Exeget etwas über die Biographie weiß – vielleicht sollte er sich idealiter gar auf die Spuren des Autors begeben oder (so die unbekannt sind) zumindest auf die des Erzählers, um eine möglichst gute Interpretation vorzulegen.
Nun sind biographische Interpretationen nicht gerade meine Stärke. Also dachte ich mir, ich folge einfach den Schritten von Krachts „Ich“ in Faserland.
Da ich keine Lust auf Scampis auf Westerland hatte und weil ich mir sicher war, was wohl passieren würde, wenn ich im Flughafen Frankfurt meine Barbour-Jacke verbrenne, habe ich mich in die Schweiz aufgemacht. Erstes Plus: Die Barbour-Jacke durfte zuhause und damit auf jeden Fall unbeschädigt bleiben. Schließlich hat sie der Erzähler in Faserland ebenfalls nicht dabei, als er Zürich hinter sich lässt und am Mythenquai entlang im Taxi nach Kilchberg fährt.
Kaum war der Entschluss gefasst, tauchte das erste Problem auf: Es war dermaßen heiß in Zürich, dass ich keine Lust hatte, die Straße entlang des Sees zu Fuß abzulaufen (um gewissermaßen verlangsamt die Taxifahrt zu wiederholen und um für jedes Detail sensibilisiert zu werden). Und weil ich ein armer Philologe bin und kein reicher Pop-Schnösel, leistete ich mir auch kein Taxi, sondern nahm ganz unkrachtig die Bahn.
So kam ich ganz schön ins Schwitzen, denn der Bahnhof von Kilchberg liegt am Fuße des Sees und der Weg zum Friedhof steigt ganz schön an. Ein Taxi, das mir zumindest das hätte ersparen können, fand ich am Bahnhof nicht. Während des Wegs nach oben flitzten die SUVs andauernd durch die schmalen Kurven, wovon in Faserland freilich nichts erzählt wird – vermutlich, weil’s in der Schweiz immer so beschaulich zugeht und die Menschen, die diese großen Autos fahren, abends immer in ihren wohlbehüteten Villen sitzen.
Falls die aber doch abends hier herumsausen, macht die Fahrt mit dem Taxi bestimmt keinen Spaß. Ohne Zweifel zu viele Kurven und abrupte Bremsungen, weil dauernd entgegenkommende SUVs zum Bremsen nötigen.
Die eigentliche Überraschung war aber schließlich das Grab von Thomas Mann. Ok, es war mitten am Tag, als ich da war. Aber wie kann man das Grab von Thomas Mann auf dem Kilchberger Friedhof nicht finden? Zwar gibt es keine Schilder. Aber am Eingang zum Friedhof hängt eine große Karte, auf der man sich wunderbar orientieren kann. Ich stellte mir Stuckrad-Barre vor, wie er bei einem seiner Abende hier in der Gegend kopfschüttelnd vor der Tafel steht und sich denkt: „Mensch, Krachti, was hattest Du denn eingeworfen, als Du hier rumgeschlichen bist.“
Die eigentliche Überraschung aber war das Grab von Golo Mann, das inzwischen ganz alleine am Friedhofsrand liegt (ostentativ weit vom Vater entfernt). Zumindest das muss man doch finden, dachte ich mir. Aber auch davon kein Wort in Faserland.
(Ich schreibe ganz bewusst zwischen die beiden Fotos, um die von Golo gewünschte Distanz zu symbolisieren).
Nach diesem enttäuschenden Versuch, fragte ich mich selbstkritisch (dazu ist man als Philologe schließlich geradezu berufen), ob vielleicht die Rahmenbedingungen zu schlecht waren: zu hell, zu warm und also keine guten Voraussetzungen für die biographisch-orientierte Interpretation. Mir blieb nur die Flucht nach vorn: Wieder runter an den See, den Fährmann anrufen und übersetzen.
Aber erneut Ernüchterung: kein Fährmann weit und breit. Nicht einmal ein dunkler Nachen, mit dem ich auf eigene Faust hätte ablegen können. Nichts.
Am Rand immerhin hing ein Fahrplan für die Fähre. Und jetzt kommt’s: Man kann gar nicht vom Anleger Kilchberg aus mit der Fähre auf die andere Seeseite fahren. Mir wurde mit einem Schlag deutlich, dass Christian Kracht sich das alles ausgedacht haben muss. Vielen Dank für diese Erfahrung und das durchgeschwitzte Hemd, lieber Biographismus!