Marionettentheater

13. Dezember 2010

Wenn der Autor weiß, daß er Bedeutung produziert, und die von ihm produzierte Bedeutung kennt, dann ist seine Herrschaft gesichert. Doch wenn das nicht der Fall ist, wenn Bedeutungen erzeugt werden, die er nicht intendierte, und wenn, andererseits, die intendierte Bedeutung das gewünschte Ziel verfehlt, dann ist er in Schwierigkeiten. Eine der Konsequenzen eines solchen Verlusts von Kontrolle über die Bedeutung ist die, daß er nicht länger fähig ist, sie vorzutäuschen.
(Paul de Man: Ästhetische Formalisierung: Kleists Über das Marionettentheater, in: ders.: Allegorien des Lesens. Frankfurt/Main 1988, S. 205-233, hier S. 223f.)

De Mans Überlegungen zu Kleists kurzem Text Über das Marionettentheater sind in den letzten gut zwei Jahrzehnten vielfach reflektiert und weiterentwickelt worden. De Man selbst hat das mit seinem Aufsatz schon gebahnt, indem er deutlich gemacht hat, wie groß die Differenz zwischen Schillers Idealismus und Kleists Formästhetik ist.

Aber nicht nur in der Literaturwissenschaft, auch auf dem Theater gilt Kleist mindestens seit den 80ern als ein wesentlicher Wegbereiter der Postmoderne. Das liegt zum einen daran, dass viele theoretische Überlegungen zum postdramatischen Theater eben an der Dekonstruktion de Mans geschult sind. Das liegt zum anderen daran, dass einflussreiche Dramatiker wie Müller oder Jelinek sich ihrerseits intensiv mit Kleist auseinandergesetzt haben und seine – im wörtlichen Sinne – ‚Bedeutungslosigkeit‘ betont und in ihrem Werk produktiv rezipiert haben.

De Man hat seine Überlegungen zu Kleists kurzem Prosa-Text vor allem auf Erzählliteratur bezogen:

Daher die Notwendigkeit, den Leser durch einen beständigen Wechsel von Finten und wirklichen Schlägen in die Irre zu führen: um seine Kontrolle sicherzustellen, bedarf der Autor der Verwirrung des Lesers. Lesen ist einem Gefecht vergleichbar, dessen Kämpfer über die Realität oder Fiktionalität ihrer Äußerungen streiten, über die Fähigkeit zu entscheiden, ob der Text eine Fiktion oder eine (Auto-)Biographie, eine Erzählung oder historisch, spielerisch oder ernsthaft sei.
(Ebd., S. 224)

Doch was passiert bei diesem Verwirrspiel, wenn eine zweite Autorität in Gestalt eines Theaterregisseurs hinzutritt, die zunächst ihr eigenes Gefecht mit dem Text führt, dann dieses Gefecht durch den Meta-Reflektionswolf dreht, das Ergebnis präsentiert und schließlich doch nicht verhindern kann, dass zumindest ein Teil der Zuschauer das Gefecht mit dem dramatischen Text suchen und am Gefecht mit der Meta-Reflexion gar nicht interessiert sind. Manche Regisseure stellen sich dann hin und rufen: „Ätsch! Wenn Du Dich nicht für meine Meta-Reflexion interessierst, dann bleib doch gleich mit Deinem blöden Drama zuhause!“ Die meisten Regisseure aber sind schlauer und nicht so schnell eingeschnappt. Das liegt schon daran, dass sie meistens ganz gute Nehmerqualitäten haben. Viel bessere als Kritiker oder Publikum.

Denn auch wenn es Kritik und Publikum oft nicht wahrhaben wollen, sind die Gefechte mit dem Text, die auf der Bühne reflektiert werden, alles andere als subjektiv oder zufällig. Die Inszenierung zeigt in vielen Fällen den Kontrollverlust, von dem de Man spricht, auf, macht den Autor damit ohnmächtig und zeigt diese Ohnmacht zugleich an. So kann gerade derjenige Regisseur, der den Text auf der Bühne weiterentwickelt, dem Autor gerecht werden. Nur schade, dass die Autoren es den Regisseuren meist nicht danken.

Die Frage ist nur, wie man mit einem Drama umgehen soll und kann, dessen Autor das mit Finten und Irreführung nicht befriffen hat und stattdessen Texte schreibt, die um jeden Preis versuchen, die Inszenierung festzulegen. Wenn es sich um einen Autor mit offensichtlichem Regulierungswahn handelt, hat es der Regisseur einfach. Er kann sich dazu verhalten oder nicht.

Viel schwieriger wird es, wenn der Autor sein Werk für wer weiß wie offen und gleichberechtigt hält und in Wirklichkeit ein starres Bedeutungsmonster geschrieben hat. Mir scheint das bei der so vielfach gerühmten britischen Blut- und Spermadramatik der Fall zu sein. Anders als Sarah Kane pflegen Autoren wie Mark Ravenhill oftmals eine starre Kammerspielästhetik. Die pubertäre Freude an der Grenzverletzung kann nicht darüber hinwegtäuschen, wie konventionell Dialogführung, Handlungskomposition sowie der Umgang mit Raum und Zeit sind. Die Spießer der Welt sollen mittels der vermeintlichen Wirklichkeit und einem zynisch-kalten Lächeln schockiert werden. Doch die schockierend einfältige Spießigkeit der Ausdrucksform dieser Dramatik wird viel zu selten wahrgenommen.

Kleist, dessen kleiner Text Über das Marionettentheater gestern seinen 200. Geburtstag feierte, meinte in einem Epigramm mit dem Titel Voltaire im Phöbus (April/Mai-Heft 1808):

Lieber! ich auch bin nackt, wie Gott mich erschaffen, natürlich,
Und doch häng‘ ich mir klug immer ein Mäntelchen um.

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Aufrüstung

30. August 2010

Das Kleist-Jahr 2011 wirft seine Schatten voraus. 200. Todestag, da muss schon was kommen. Fleißig aktualisieren die Verlage ihre Bestände und bereiten neue Ausgaben vor. Doch aus den heiligen Hallen der Textkritik wollen wir heute einmal nicht berichten.

Nein. Heute gilt es, einen großen Theatermann zu preisen, der im nächsten Jahr mal gleich die ganze Dramatik von Kleist (großartiges Wortspiel, nicht wahr?) in seinem Theater geben will: Armin Petras. Und das nicht als so ein Spaß-Ding à la ‚Shakespeare in 90 Minuten‘, sondern so richtig ernsthaft und anspruchsvoll (was bei Petras zum Glück ja nicht meint, dass das Spektakel zu kurz kommt). Aber angesichts dieser Kleist-Flut fragt man sich natürlich sofort, ob er schon mal heimlich auf den guten Heinrich angestoßen hat, dass der so früh Sch(l)uss gemacht hat mit Werk und Leben (keine Sorge, mehr Kalauer gibt es heute nicht). Solche ‚Der ganze X oder Y‘-Projekte zielen schließlich so dermaßen auf Öffentlichskeitswirkung ab, dass man sie meiner Meinung nach jedem Intendanten und Regisseur verbieten sollte.

Im Klartext: Was soll das? Auflösung auf diese Frage versprach Anfang des Monats ein Interview in der Berliner Zeitung, mit dem Titel „Kämpfen, fallen, saufen“ was eher nach Kreisklasse klingt und nicht nach Bundesliga. Auf jeden Fall meinte Petras da über Kleists Hermannsschlacht:

„Eigentlich geht es doch nur um ideelle oder emotionale Aufrüstung. Alles was Herrmann tut, ist dazu da, die Deutschen zum Kämpfen zu bringen. Das ist für mich interessant, auch die Ausgangssituation. Ich finde, dass Deutschland heute moralisch ähnlich darniederliegt.“

Ich verzichte jetzt mal auf Hinweise, in welche Tradition Petras damit gewollt oder ungewollt tritt – von einem Regisseur, der sich im Interview als guter Kenner der Hermannsschlacht und von dessen Rezeptionsgeschichte ausweist, kann man eigentlich ein wenig mehr Vorsicht bei der Wortwahl erwarten. Ich will jetzt auch gar keine Mutmaßungen darüber anstellen, an was sich nach Petras‘ Meinung dieser Niedergang festmachen lässt. Und leider klärt das der Interviewer der Berliner Zeitung auch nicht so richtig.

Viel spannender finde ich die Frage, ob Petras dann auch mit dem Käthchen „Aufrüstung“ betreiben und mit dem Zerbrochenen Krug die Moral wieder aufrichten will – das dürfte dann vielleicht kein spannender Theaterabend sein, aber zumindest ein komischer …


In Staub …

28. Mai 2010

Seit Wochen nimmt sich das Theater wieder einmal wichtig. Indizien?

1. Der Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier hat sich in Neuhardenberg gegen das Regietheater gewandt und damit deutlich gemacht, dass ein bestimmter Inszenierungstyp bei ihm prinzipiell keine Chance hat.

2. Botho Strauß hat gegen Gegenwartstheater und Schauspieler, die auch sowas Niederes wie den Tatort bedienen, gewettert, um Jutta Lampe zu preisen. Die Lampe ist freilich eine derart großartige Schauspielerin, dass es gewiss nicht notwendig gewesen wäre, den Rest klein zu machen, um sie erstrahlen zu lassen. Deswegen liegt der Verdacht nahe, dass es Strauß in seiner Laudatio gar nicht um die Lampe, sondern um sein eigens Unbehagen am Theater ging. Der Widerspruch liess auf jeden Fall nicht lange auf sich warten. Allerdings waren die Einwände von Ulrich Khuon und Thomas Ostermeier insgesamt derart differenziert, dass sich ein Streit aus Strauß‘ Polemik kaum ergeben wird. Eigentlich ein Jammer, wenn ein Lessing-Preisträger nicht einmal einen anständigen Streit anzetteln kann.

3. Der Jury-Entscheid auf dem Heidelberger Stückemarkt wird derzeit zum Skandal hochgepuscht. Die Jury hat sich geweigert, ein Stück auszuzeichnen und stattdessen dafür plädiert, das Preisgeld an alle ausgewählten Dramatiker auszuschütten. Eigentlich ein kluger Gedanke, trotzdem provozierte er. Glücklicherweise wehren sich die Jury-Mitglieder. So hat Christine Dössel von der SZ eine, wie ich finde, überzeugende Erwiderung verfasst. Zumindest diese Kontroverse hat das Zeug, sich weiterzuentwickeln – man darf gespannt sein.

Der Mai ist für solche Auseinandersetzungen ein günstiger Monat. Schließlich werden in Berlin beim Theatertreffen, eben in Heidelberg und in Mülheim permanent irgendwelche Inszenierungen, Dramen und manchmal auch Schauspieler zum ‚xxx des Jahres‘ erklärt, so dass andauernd irgendwer eine Rede halten oder ein Statement abgeben muss, was offenbar gerne zum Anlass genommen wird, um das eigene Unbehagen zum Ausdruck zu bringen. Aber irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass das alles nur Stürmchen im Wasserglas sind. Wer sich mit dem Theater auskennt, sollte doch wissen, dass Hybris ein schlechter Ratgeber ist.

Und vor allem fragt man sich, ob das Theater tatsächlich irgendwie von diesen Auseinandersetzungen profitiert. Ich weiß es nicht, doch ich befürchte, dem ist nicht so. Besser beraten scheint das Theater zu sein, wenn es sich vom ganzen Tamtam fernhält, seinen Job erledigt und das Publikum statt mit polemischen Reden mit guten Inszenierungen zu überzeugen versucht.

Am Mittwoch war ich in Bochum im prinz regent theater, einem auch überregional bekannten Off-Theater. Premiere hatte dort Kleists Prinz von Homburg. Regie führte die Hausherrin Sibylle Broll-Pape. Sie hat die bescheidenen Mittel des Hauses hervorragend genutzt und Kleists Drama ganz konzentriert auf die Bühne gebracht, ohne dabei in irgendeiner Weise antiquiert zu wirken. Den Schlachtplan etwa erläutert der Kurfürst an einer großen projektierten Karte von Fehrbellin. Doch lenken solche technischen Hilfsmittel nicht vom Kern des Dramas ab, so dass sein Zentrum auch das Zentrum der Inszenierung bleibt: mit einem Prinzen, dem man seine Zerrissenheit zwischen Lebenssehnsucht und Heroismus voll und ganz abnimmt.

Gleichzeitig ist die Aufführung auch mutig: Den berühmtesten Satz des Stücks („In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!“) brüllen die Schauspieler mit einer Begeisterung für die Sache des Kurfürsten, dass man gleich weiß, warum das Drama sich derart gut eignete, um von den Nazis vereinnahmt zu werden. Aber eben weil die Inszenierung die Kriegsbegeisterung nicht ausspart oder ‚dekonstruiert‘, funktioniert die Aufführung: Nur ein Prinz, der alles für den Ruhm zu geben bereit ist und dem gerade deswegen seine Natalie nicht das Einzige ist, dem kann am Ende Kottwitz zurufen: „Ein Traum, was sonst.“

Die Aufführung hat 1. belegt, dass eine starke Regiehandschrift kein Widerspruch zur Auseinandersetzung mit dem Drama sein muss (wie Stadelmaier meint), dass 2. sich ‚das‘ Theater heute nicht durch Bildungsferne auszeichnet (wie Strauß meint) und trotzdem lebendig sein kann und dass 3. gute Stücke nicht vom Himmel fallen und man nicht partout dauernd neue produzieren muss (wie der Kritiker der Heidelberger Jury meinen).

Das Publikum im ausverkauften Haus in Bochum hat den Abend genossen, der lange Schlussapplaus spricht dafür – ganz so als wollte man den Aufgeregten in Berlin, Heidelberg und anderswo zufrufen: „In Staub mit allen Reden vom Theater.“ Nur gingen diesem Ruf die Militanz, die Wut und selbstredend der Patriotismus der Brandenburger ab, was gewiss dazu führen wird, dass die Wichtigtuer den Ruf aus Bochum nicht hören werden. Schließlich sind die, die dauernd brüllen, oft schwerhörig.


Philologen-Traum

23. April 2010

Vor ein paar Tagen las ich einen Bericht über den Mathematiker Grisha Perelman bzw. über eine Biographie über ihn. Das hier ist also ein über-über-über-Artikel, ein Beispiel für den notorischen Wahnsinn im Netz, an dem vielleicht sogar Niklas Luhmann verzweifelt wäre. Aber das ist jetzt auch egal. Der Artikel trägt auf jeden Fall die Überschrift: „He Conquered the Conjecture“.

Letzte Nacht nun folgte darauf ein fulminanter Anflug von philologischem Größenwahn: Ich wühlte in alten Drucken und Handschriften herum, tippte meine Beobachtungen in den Rechner und auf einmal las ich: „He Conquered the Conjecture“. Ich war mir sicher, dass nur ich gemeint sein konnte, sogar noch als ich aufwachte. Beim Frühstück war der Größenwahn selbstredend einem normalen Arbeitselan gewichen. Immerhin aber noch etwas euphorisiert, machte ich mich an die Arbeit und überlegte mir, wie ich eine kleine Studienausgabe von Kleists Käthchen konzipieren möchte. Und bumms ist der Traum nicht einmal mehr ein Traum. Einen Moment noch denke ich: „Na gut, nix mit Eroberung, aber immerhin vielleicht der Zwerg auf den Schultern der Riesen.“ Aber jetzt, da ich sehe, wie hervorragend die Riesen gearbeitet haben, wird aus dem Zwerg eine Laus. Keine schöne Vorstellung, davon nächste Nacht zu träumen.


Geschichtskritik

12. März 2010

In den letzten Wochen habe ich mich gleich mehrfach über Literaturkritiker geärgert, die so tun, als würden sie einfach alles wissen und kennen, und die offensichtlich nicht einmal das Buch, das sie rezensieren, aufmerksam gelesen haben. Deshalb war ich dankbar, als ich mich diese Woche mit Rezensionen von Kleists Hermannsschlacht beschäftigen konnte. Rezensionen um 1820, das heißt Blütezeit der Kritik, abgesichert durch humanistische Bildung. Da lacht das Herz des Philologen.

Pustekuchen.

Gestern las ich: „Diese Hermannsschlacht ist ein Gelegenheitsgedicht, wie die Perser des Aeschylos, mit dem Unterschiede jedoch, daß, wenn diese den errungenen Sieg feyern, die Hermannsschlacht dem unterdrückten Vaterlande wie eine Feuersäule vorleuchtet, den Gang zum Siege voraus schreitend.“ Schöner Vergleich, dachte ich eine Sekunde lang – Die Perser: erstes vollständig erhaltenes Drama der Menschheit und Kleist, einer meiner Helden derzeit.

Aber Moment. Die Perser: Da feiert doch niemand; das persische Heer ist von den Griechen geschlagen worden. Die Überlebenden, allen voran König Xerxes, kehren zurück, um von der Niederlage zu berichten und um die Klage über die Niederlage anzustimmen. Nix errungener Sieg. Es geht gar nicht um die Sieger. Das ist ja gerade so großartig an dem Stück. Es ist Dramatik der Sieger, aber in Gestalt eines Blicks auf die Klage der Besiegten. Der Vergleich zwischen Die Perser und der Hermannsschlacht hinkt nicht nur, er ist schlicht quatsch.

Und was lernt der Philologe aus diesem Beispiel? Auch in der guten, alten Zeit war nicht alles toll. War eigentlich auch klar, ist aber kein wirklicher Trost, wenn man schwache Kritiken liest.


Skandal und Aufmerksamkeit

1. März 2010

Angenommen, in der Zeitung taucht die Nachricht auf, die letzten fünf Szenen eines Theaterstücks von einem vor einigen Jahren verstorbenen, einigermaßen bekannten Schriftsteller seien überraschend publiziert worden. In der Nachricht wird unmissverständlich klar gemacht, dass das Stück ganz und gar der Entstehungszeit verhaftet und latent propagandistisch ist. Am Ende des Artikels heißt es dann wenigstens noch, das Drama sei wirklich ganz ‚herrlich‘. Trotzdem: Wen würde das hinterm Ofen hervor locken? Wohl keinen.

Hat es auch 1818 nicht getan, als Johann Baptist von Pfeilschifter in der Zeitschrift Zeitschwingen die letzten Szenen aus Kleists Hermannsschlacht erstmals publizierte, nachdem sich der 1811 das Leben genommen hatte und es nie zum Druck oder zur Aufführung des Stücks gekommen war.

Die Literaturkritik heute ist da schlauer: Wenn Sie einen Text auftut, den sie für total wichtig hält, für den sich aber kein Mensch interessiert, dann schreit sie laut: „Skandal!“ Bis keiner mehr an dem Buch vorbeizukommen meint. So zu verfahren, wäre heute übrigens auch beim Zeitschwingen-Abdruck ganz leicht. Pfeilschifter druckte den Text, weil er sich den Dank seiner Leser „verdienen“ wollte, wie er es nannte. Solche Kinkerlitzchen wie Urheberrecht haben ihn nicht weiter interessiert. Der Ruf „Skandal“ blieb freilich aus. Schließlich war das Anfang des 19. Jahrhunderts mit dem Urheberrecht noch so eine Sache. Dass die Literaturgeschichte Pfeilschifter inzwischen weitgehend vergessen hat, ist also keine Strafmaßnahme wegen Urheberrechtsverletzung, wie man meinen könnte.


Hass spricht

9. Februar 2010

Vom Schluss von Kleists Hermannsschlacht existieren zwei Varianten. Gemeinsam ist beiden, dass sie mit einem Appell des Germanenfürsten schließen. In der frühen Fassung heißt es:

Und dann – nach Rom selbst muthig aufzubrechen.
Wir oder unsre Enkel, meine Brüder,
Denn eh‘ doch, seh‘ ich ein, erschwingt der Kreis der Welt
Vor dieser Brut der Wölfin keine Ruhe,
Als bis das Raubnest ganz zerstört,
Und nichts als eine schwarze Fahne
Von seinem öden Trümmerhaufen weht!

Dass angesichts des in diesen Zeilen offen zum Ausdruck kommenden Nationalismus das Stück von nationalistischen Schwachköpfen vereinnahmt wurde, kann man sich denken. Was man aber kaum für möglich hält, ist dass Kleist diesen Schluss sogar noch verschärft hat. Der viertletzte Vers lautet in der vollständigen Ausgabe, die 1821 posthum von Ludwig Tieck publiziert wurde:

Vor dieser Mordbrut keine Ruhe,

Die Römer zur Brut einer Wölfin zu deklarieren, war – Roms Gründungsmythos hin oder her – auch zu Kleist Zeit schon keine Höflichkeit. Schließlich hatte ‚Brut‘ auch damals einen eindeutig ‚gehässigen‘ Sinn, wie das Grimmsche Wörterbuch belegt. ‚Mordbrut‘ in der jüngeren Fassung verschärft die Aggression nun schon deswegen, weil die hier angesprochene ‚Brut‘ nach allen Gesetzen der Wortbildung aus dem Mord hervorgeht. Die Römer mutieren am Ende von Kleists Drama also von den Abkömmlingen der Wölfin zu solchen, die aus dem Morden erwachsen sind.

Von Judith Butler kann man lernen, dass hate speech erst wirkungsmächtig wird, wenn sie wiederholt wird. Zumindest die Wendung ‚Mordbrut‘  ist bemerkenswert wirkungslos geblieben. Grimms Wörterbuch kennt als einzigen Beleg diesen Kleist-Vers und selbst die allmächtige Suchmaschine wirft in erster Linie Hinweise auf die Hermannsschlacht aus. Möge ‚Mordbrut‘ in Ewigkeit ruhn!


Kleists „Hermannsschlacht“

3. Dezember 2009

Im Moment erarbeite ich eine kritische Ausgabe der Hermannsschlacht für den Reclam-Verlag. Das ist vielleicht die einzige Möglichkeit, diesem Monster zu begegnen, ohne vor ihm Reißaus nehmen zu müssen. Die Konzentration auf die Textkritik hilft, den unerträglichen Nationalismus des Stücks auszublenden.