Wenn der Autor weiß, daß er Bedeutung produziert, und die von ihm produzierte Bedeutung kennt, dann ist seine Herrschaft gesichert. Doch wenn das nicht der Fall ist, wenn Bedeutungen erzeugt werden, die er nicht intendierte, und wenn, andererseits, die intendierte Bedeutung das gewünschte Ziel verfehlt, dann ist er in Schwierigkeiten. Eine der Konsequenzen eines solchen Verlusts von Kontrolle über die Bedeutung ist die, daß er nicht länger fähig ist, sie vorzutäuschen.
(Paul de Man: Ästhetische Formalisierung: Kleists Über das Marionettentheater, in: ders.: Allegorien des Lesens. Frankfurt/Main 1988, S. 205-233, hier S. 223f.)
De Mans Überlegungen zu Kleists kurzem Text Über das Marionettentheater sind in den letzten gut zwei Jahrzehnten vielfach reflektiert und weiterentwickelt worden. De Man selbst hat das mit seinem Aufsatz schon gebahnt, indem er deutlich gemacht hat, wie groß die Differenz zwischen Schillers Idealismus und Kleists Formästhetik ist.
Aber nicht nur in der Literaturwissenschaft, auch auf dem Theater gilt Kleist mindestens seit den 80ern als ein wesentlicher Wegbereiter der Postmoderne. Das liegt zum einen daran, dass viele theoretische Überlegungen zum postdramatischen Theater eben an der Dekonstruktion de Mans geschult sind. Das liegt zum anderen daran, dass einflussreiche Dramatiker wie Müller oder Jelinek sich ihrerseits intensiv mit Kleist auseinandergesetzt haben und seine – im wörtlichen Sinne – ‚Bedeutungslosigkeit‘ betont und in ihrem Werk produktiv rezipiert haben.
De Man hat seine Überlegungen zu Kleists kurzem Prosa-Text vor allem auf Erzählliteratur bezogen:
Daher die Notwendigkeit, den Leser durch einen beständigen Wechsel von Finten und wirklichen Schlägen in die Irre zu führen: um seine Kontrolle sicherzustellen, bedarf der Autor der Verwirrung des Lesers. Lesen ist einem Gefecht vergleichbar, dessen Kämpfer über die Realität oder Fiktionalität ihrer Äußerungen streiten, über die Fähigkeit zu entscheiden, ob der Text eine Fiktion oder eine (Auto-)Biographie, eine Erzählung oder historisch, spielerisch oder ernsthaft sei.
(Ebd., S. 224)
Doch was passiert bei diesem Verwirrspiel, wenn eine zweite Autorität in Gestalt eines Theaterregisseurs hinzutritt, die zunächst ihr eigenes Gefecht mit dem Text führt, dann dieses Gefecht durch den Meta-Reflektionswolf dreht, das Ergebnis präsentiert und schließlich doch nicht verhindern kann, dass zumindest ein Teil der Zuschauer das Gefecht mit dem dramatischen Text suchen und am Gefecht mit der Meta-Reflexion gar nicht interessiert sind. Manche Regisseure stellen sich dann hin und rufen: „Ätsch! Wenn Du Dich nicht für meine Meta-Reflexion interessierst, dann bleib doch gleich mit Deinem blöden Drama zuhause!“ Die meisten Regisseure aber sind schlauer und nicht so schnell eingeschnappt. Das liegt schon daran, dass sie meistens ganz gute Nehmerqualitäten haben. Viel bessere als Kritiker oder Publikum.
Denn auch wenn es Kritik und Publikum oft nicht wahrhaben wollen, sind die Gefechte mit dem Text, die auf der Bühne reflektiert werden, alles andere als subjektiv oder zufällig. Die Inszenierung zeigt in vielen Fällen den Kontrollverlust, von dem de Man spricht, auf, macht den Autor damit ohnmächtig und zeigt diese Ohnmacht zugleich an. So kann gerade derjenige Regisseur, der den Text auf der Bühne weiterentwickelt, dem Autor gerecht werden. Nur schade, dass die Autoren es den Regisseuren meist nicht danken.
Die Frage ist nur, wie man mit einem Drama umgehen soll und kann, dessen Autor das mit Finten und Irreführung nicht befriffen hat und stattdessen Texte schreibt, die um jeden Preis versuchen, die Inszenierung festzulegen. Wenn es sich um einen Autor mit offensichtlichem Regulierungswahn handelt, hat es der Regisseur einfach. Er kann sich dazu verhalten oder nicht.
Viel schwieriger wird es, wenn der Autor sein Werk für wer weiß wie offen und gleichberechtigt hält und in Wirklichkeit ein starres Bedeutungsmonster geschrieben hat. Mir scheint das bei der so vielfach gerühmten britischen Blut- und Spermadramatik der Fall zu sein. Anders als Sarah Kane pflegen Autoren wie Mark Ravenhill oftmals eine starre Kammerspielästhetik. Die pubertäre Freude an der Grenzverletzung kann nicht darüber hinwegtäuschen, wie konventionell Dialogführung, Handlungskomposition sowie der Umgang mit Raum und Zeit sind. Die Spießer der Welt sollen mittels der vermeintlichen Wirklichkeit und einem zynisch-kalten Lächeln schockiert werden. Doch die schockierend einfältige Spießigkeit der Ausdrucksform dieser Dramatik wird viel zu selten wahrgenommen.
Kleist, dessen kleiner Text Über das Marionettentheater gestern seinen 200. Geburtstag feierte, meinte in einem Epigramm mit dem Titel Voltaire im Phöbus (April/Mai-Heft 1808):
Lieber! ich auch bin nackt, wie Gott mich erschaffen, natürlich,
Und doch häng‘ ich mir klug immer ein Mäntelchen um.