Vor einigen Jahren stand ich im oberen Foyer des Schauspiels Frankfurt. Gleich sollte Schnitzlers Liebelei gegeben werden. Ich würde drüber schreiben. Für nachtkritik.de. Damals – in seinem vierten Jahr – zwar schon als theaterkritrischer Blog bekannt, aber längst noch nicht die überregionale Kapazität, die es heute ist.
Das wurde mir im Kontrast deutlich. Kurz nach mir schritt ein zweiter Kritiker die Treppe hinauf: Gerhard Stadelmaier. Falk Schreiber hat auf nachtkritik.de jüngst in Erinnerung gerufen, für was insbesondere Stadelmaier, aber auch einige andere standen, als etwa Falk oder ich anfingen, Kritiken zu schreiben.
Erst war ich versucht, ihn anzusprechen. Konnte man ihn begrüßen mit: „Hallo Herr Stadelmaier, ich bin auch Theaterkritiker und wir haben auch noch denselben Doktorvater! Darf ich Sie auf ein Glas Wein einladen?“
Doch dann sah ich, dass das nicht angemessen gewesen wäre. Stadelmaier betrat den Aufgang zum Theater nicht einfach. Nein. Stadelmaier wandelte die Treppe hinauf, wie es kurz vor ihm Michel Friedman und Bärbel Schäfer getan hatten: Ein Wink nach links, ein Scherz nach rechts, langsames Schreiten als Ausdruck höchster eigener Bedeutung und großer Huld, die dem zu dieser Zeit so erfolgreichen Schauspiel Frankfurt zuteile wurde.
Ich musste an einige seiner Sätze über Lessing denken:
Lessing war bis zum Wahnsinn in Schriften, Bücher, Thesen, Antithesen, Fragen und Streit verliebt. Er genoß fast erotisch jeden öffentlichen Auftritt im Kampf um die Wahrheit oder das, was andere als er für die Wahrheit hielten, er aber nur für eine Gelegenheit hielt, weiterzukommen, frischer zu denken, ungenierter zu polemisieren, sich im Gedankenfluß zu baden.
(Gerhard Stadelmaier: Traumtheater. Vierundvierzig Lieblingsstücke. Frankfurt/M. 1997, S. 211).
Stadelmaiers Charakterisierung Lessings als wenig an der Wahrheit interessierten, sondern in erster Linie zügellos selbstverliebten Kritiker und Denker ist mir bis heute suspekt. Auch entspricht es kaum dem Lessing-Bild, das die meisten zeichnen würden, die wie er und ich bei Wilfried Barner studiert haben – auch wenn der immer wieder betont hat, wie anmaßend Lessings Polemik oft war.
Wer Stadelmaiers Kritiken, aber auch seine Bücher über das Theater kennt (mit Ausnahme seiner Lessing-Dissertation), hat nicht selten den Eindruck, dass er immer auch von sich selbst spricht, wenn er über Lessing schreibt. Das liegt zunächst, so darf man sicher festhalten, an Lessings wie Stadelmaiers Wertschätzung der Polemik. Peter-André Alt hat das in seiner Laudatio zur Verleihung des Deutschen Sprachpreises an den Kritiker auf den Begriff der ‚kalkulierten Explosionen‘ gebracht (abgedruckt in der FAZ vom 24.9.2016, Nr. 224, S. 22). Das trifft das Gemeinsame von Lessing und Stadelmaier, denke ich, sehr gut. Aber es gibt doch mindestens einen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden. Zwar ist auch Stadelmaier, das deutet mein Hinweis auf seine akademische Sozialisation bereits an, ein mit allen Wassern der Gelehrsamkeit gewaschener Kritiker. Aber sein Umgang mit seinem akademischen Fundament ist doch ein ganz anderer als der Lessings. Das führt bereits vor, wie er in der FAZ anlässlich des 70. Geburtstags an Wilfried Barner erinnerte:
Seine überlaufenen Seminare waren schwafelfreie Oasen kritischer Sachlichkeit, gedanklicher Schärfe und intellektueller Distinktion. Sein Hausheiliger: Lessing. Dessen kritische Schriften, Polemiken, Dramen, dessen Methoden freier Beweglichkeit und des Verbotes des Denkverbotes, aber auch dessen Lust, in ältesten Papieren neuestes Entwicklungen anzustoßen und vor allem: wirken zu wollen, nutzte Barner als Humus einer nützlichen Wissenschaft.
(FAZ vom 2.6.2007, Nr. 126, S. 23).
Stadelmaiers Geburtstagsgruß hat mich damals sehr erfreut, er trifft sehr gut die verschiedenen Forschungsschwerpunkte Barners und seine Art zu lehren. Gleichwohl bin ich mir sicher, dass Barner sich zumindest an der Bezeichnung Lessings als ‚Hausheiligem‘ gestoßen hat. Was für ein katholischer Gedanke! Und dann noch ein zutiefst unkritischer.
Und so weist denn die Wendung vom ‚Hausheiligen‘ darauf hin, dass das Verhältnis von Barner und Stadelmaier kein unproblematisches ist – zumindest im Hinblick auf Stadelmaiers Umgang mit Barner. Barner, so scheint mir, hat das Verhältnis vergleichsweise pragmatisch betrachtet. Er zitiert Stadelmaiers rezeptionsästhetische Dissertation über Lessing auf der Bühne der 1970er Jahre sehr regelmäßig in seinen eigenen Lessing-Studien.
Im Unterschied dazu ist Stadelmaiers Umgang mit Wilfried Barner höchst ambivalent. Zwar gibt es das wertschätzende Porträt zum 70. Geburtstag. Aber in seinem autobiographischen Roman Umbruch von 2016 ergibt sich ein anderes Bild.
Ausführlich schildert das Ich die Faszination, die es früh erfasst hat, wenn es im Theatersaal oder aber in Redaktionsbüros sitzt und sich so ganz am Puls der Zeit fühlt. Umbruch ist, das ist eigentlich ganz putzig, mehr ein Coming-of-Age-Roman als ein Bildungsroman. Diesen Eindruck unterstützt gerade auch der Erzähler, da er den Protagonisten altväterlich immer nur ‚der junge Mann‘ nennt. Die Befreiung aus der provinziellen schwäbischen Enge vollzieht sich in dem Roman zyklisch wie bei Andreas Maier in allmählicher Erweiterung des Horizonts: erst das Dorf, dann die Kreisstadt, die Universitätsstadt, die Landeshauptstadt und schließlich die Großstadt, die – wenn ich mich recht erinnere – nie Frankfurt genannt wird.
Allein aufgrund dieser Raum gewordenen Dynamik hätte sich ein näherer Hinweis auf das Studium angeboten. Und es ist auch nicht so, dass die Universität unerwähnt bleibt. Aber letztlich nutzt das Roman-Ich sie ausschließlich, um sich über deren Politisierung lustig zu machen. Anders als Stadelmaier in der FAZ-Laudatio vor zehn Jahren erwähnt das Ich des Romans nicht, dass es in den 70ern in Tübingen jüngere Professoren gab, die Wissenschaft und frischen Wind zu vereinen wussten. Dass zudem das Vorbild des Ichs, nämlich der empirische Autor, der Universität sogar so nahe stand, dass er eine Dissertation bei dem Lessing-Forscher schlechthin geschrieben hat, bleibt gänzlich unerwähnt.
Natürlich ist ein Roman kein Abbild der Wirklichkeit. Aber selbstverständlich legt der Roman eine autobiographische Lektüre angesichts der zahlreichen Parallelen und intimen Details nahe. Umbruch ist eine in Romangestalt daherkommende Selbstinszenierung, die alles darauf konzentriert, ein Bild vom theaterkritischen Self-Made-Man zu zeichnen. Ein solcher Umgang mit der eigenen akademischen Sozialisation war Lessing ganz und gar fremd. Das belegen seine literarischen Arbeiten wie seine Kritiken eindrücklich.
Diese Überlegungen gehen zurück auf einen Vortrag, den ich zunächst anlässlich des 80. Geburtstags von Wilfried Barner am 3. Juni 2017 in Göttingen gehalten habe. Für die Diskussion und Kritik danke ich den Teilnehmern des Kolloquiums sehr. Als ich nun Falk Schreibers Essay auf nachtkritik.de las, schien mir dies eine gute Gelegenheit, die Überlegungen zu überarbeiten und hier zu publizieren.