Hebbel-Preis 2024

21. März 2024

Am Wochenende fand im Hebbel-Museum Wesselburen die Verleihung des Hebbel-Preises statt. Der Vorstand der Hebbel-Stiftung, dem ich auch angehöre, hat in diesem Jahr die dramatischen Arbeiten der in Eckernförde geborenen Caren Jeß ausgezeichnet. Auf der Homepage der Stiftung finden sich einige Impressionen von der Preisverleihung.


Erinnerungen

31. Januar 2024

Hatte die schöne Gelegenheit, über einige Sätze nachzudenken, die mich bis heute sehr beschäftigen. Die Sätze hat Wilfried Barner schon vor rund 40 Jahren über Lessings „Die Juden“ geschrieben, gelesen habe ich sie vor ungefähr 30 Jahren:


Wider das ‚öde Ablagern von lauter hagestolzen Gedanken‘ – Überlegungen zu Theater und Kritik in der Romantik

27. Dezember 2023

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts lösten sich die Grenzen zwischen den verschiedenen dramatischen Textsorten erkennbar auf. Auch gewann der professionelle kritische Blick aus dem Parkett auf die Bühne eine neue Qualität. 
Beide Momente haben Folgen bis in die Gegenwart gezeitigt. Sie lassen sich am Beispiel der Komödie, die in Deutschland bis heute keinen leichten Stand hat, besonders gut erklären. Friedrich Schlegel setzte sich als Philologe mit der bis dahin wenig erforschten Komödie der Griechen auseinander und betonte den Begriff der 'Freiheit' als „Mischung aus Antikenfrömmigkeit und Libertinage“ (Stefan Matuschek: Der gedichtete Himmel. München 2017, S. 73). Schlegel zeigt in Vom ästhetischen Wert der griechischen Komödie, dass Aristophanes' Stücke weniger geschlossen und deutlich episodischer sind als historisch jüngere Komödien. Auf diese Weise sprach er sich für deutlich fragmentierte Dramen aus und opponierte gegen formale Konventionen des bürgerlichen Trauerspiels sowie des klassizistischen Dramas.
Die Wertschätzung des Momenthaften und des Theatralen, des Szenischen und der Illusionsdurchbrechung – all das kann als ein Erbe der Romantik betrachtet werden, das sich auf der Bühne vielfältig durchgesetzt hat. Letztlich hat die romantische Theaterkunst in Auseinandersetzung mit der griechischen Komödie gegen die Ebenmäßigkeit der verschiedenen klassizistischen Traditionen und natürlich gegen Aristoteles' Tragödienpoetik die Voraussetzungen für eine bis heute anhaltende Lust am Konventionsbruch im Theater geschaffen. Das Drama von Kleist und Tieck, von Lasker-Schüler und Pirandello, ja sogar die inzwischen in die Jahre gekommene Postdramatik einer Elfriede Jelinek ist geprägt von großer Kenntnis der dramatischen Traditionen und dem tiefen Verlangen, diese zu fragmentieren und zu zerstören. Damit geht nicht selten ein Ironiebedürfnis einher. Dass René Pollesch schließlich doch noch Intendant der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin wurde, ist – derart betrachtet – ebenfalls ein später Triumph der Romantik.
Aber nicht nur die Dramatik selbst und ihre Inszenierungen veränderten sich seit der Romantik fundamental. Das Theater entwickelte sich zu einer eigenständigen Bühnenkunst, die sich zunehmend und mit guten Gründen weigerte, bloße Steigbügelhalterin des dramatischen Textes zu sein. Das veränderte auch die Theaterkritik. Zwar wurde sie schon in der Aufklärung fundamental geprägt, ja eigentlich erst initiiert. Aber so wie Heinrich Heine hat selbst Lessing nicht über das Theater geschrieben:

Die Gunst des Schicksals wollte es nun, daß ich in fremdem Lande einige Lustspiele des Doktors Ernst Raupach mit Muße lesen konnte. Nicht ohne Anstrengung konnte ich mich bis zu den letzten Akten durcharbeiten. Die schlechten Witze möchte ich ihm alle hingehen lassen, und am Ende will er damit nur dem Publikum schmeicheln; denn der arme Hecht im Parterre wird zu sich selber sagen: ›Solche Witze kann ich auch machen!‹, und für dieses befriedigte Selbstgefühl wird er dem Autor Dank wissen. Unerträglich war mir aber der Stil. Ich bin so sehr verwöhnt, der gute Ton der Unterhaltung, die wahre, leichte Gesellschaftssprache ist mir durch meinen langen Aufenthalt in Frankreich so sehr zum Bedürfnis geworden, daß ich bei der Lektüre der Raupachschen Lustspiele ein sonderbares Übelbefinden verspürte. Dieser Stil hat auch so etwas Einsames, Abgesondertes, Ungeselliges, das die Brust beklemmt. Die Konversation in diesen Lustspielen ist erlogen, sie ist immer nur bauchrednerisch vielstimmiger Monolog, ein ödes Ablagern von lauter hagestolzen Gedanken, Gedanken, die allein schlafen, sich selbst des Morgens ihren Kaffee kochen, sich selbst rasieren, allein spazierengehn vors Brandenburger Tor und für sich selbst Blumen pflücken. Wo er Frauenzimmer sprechen läßt, tragen die Redensarten unter der weißen Musselinrobe eine schmierige Hose von Gesundheitsflanell und riechen nach Tabak und Juchten.

Heinrich Heine: Essays über die französische Bühne, 1. Brief
Heines Theaterkritik ist, das muss man sich zunächst vergegenwärtigen, Literaturkritik. Ein 'Ich' schildert seine Eindrücke während der Lektüre eines Stückes. Es lässt seinen Impressionen freie Lauf. Auch arbeitet es deutlich mit literarischen Techniken, wenn es etwa die Gedanken personifiziert und ‚allein vors Brandenburger Tor spazierengehen‘ lässt.
Wer nun jedoch meint, diese Kritik sei schlicht subjektiv, den belehrt Heine erkennbar eines Besseren. Er macht seine Beurteilungsmaßstäbe kenntlich, indem er erwähnt, welche Stücke er im Unterschied zu denen Raupachs wertschätzt: französische Konversationslustspiele etwa. In der Gegenwart wäre Heine wahrscheinlich ein großer Liebhaber der Stücke von Yasmina Reza gewesen.
Theaterkritiken wie die Heines legten den Grundstein, so meine These, für einen Typus der Theaterkritik (es entwickeln sich später selbstverständlich weitere), den ich 'romantisch' nennen möchte. Alfred Kerr hat ihn wie kein anderer verkörpert. Das gilt ungeachtet dessen, dass er die naturalistische Dramenästhetik etwa eines Gerhard Hauptmann weit mehr geschätzt hat als die romantische. Kerr hat die Theaterkritik entschieden geprägt, indem er es sich nicht verboten hat, von sich bzw. hochherrschaftlich von 'uns' zu sprechen. Seine Texte kennzeichnet eine bis heute beeindruckende Prägnanz. Er erreicht sie, da aus seinen Kritiken Text für Text die Lust spricht, das Publikum zu unterhalten und gleichzeitig das Theatererlebnis zu inszenieren, um es nicht zuletzt der Leserschaft, die nicht im Theater war, näherzubringen.
Wie Heines Essay haben die Theaterkritiken Kerrs ein ästhetisches Fundament, ohne dass sie permanent darum bemüht sind, es immer aufs Neue transparent zu machen. Während Lessings aufgeklärte Kritik nicht zuletzt seine Urteile aus der Deskription gewonnen hat, abstrahieren Heine und Kerr vom Stück und seiner Inszenierung. Sie schaffen ein kleines literarisches Meisterwerk, das nicht selten noch gelesen wurde, als die besprochene Aufführung längst abgespielt war. Diese ästhetische Eigenständigkeit der Textsorte 'Theaterkritik' ist deswegen neben der fundamentalen Autonomisierung der Bühnenkunst das zweite große Erbe, das Drama und Theater der Romantik verdanken.

(Die vorliegenden Überlegungen sollten ursprünglich als Eingangsstatement beim Podiumsgespräch „Sie allein ist unendlich, weil sie allein frei ist“: Literaturkritik der Romantik – eine Leseanleitung für uns Heutige? vorgetragen werden. Das Gespräch fand am 22.2.2023 in der Kunsthalle Osnabrück statt, teilgenommen haben Prof. Dr. Tina Hartmann (Universität Bayreuth), Andreas Platthaus (Frankfurter Allgemeine Zeitung) und Prof. Dr. Stefan Lüddemann (Neue Osnabrücker Zeitung und zugleich Organisator). Der Verfasser konnte seine Gedanken krankheitsbedingt kurzfristig am 22.2.2023 nicht vorstellen.)


Theater und Archiv

8. November 2021
Am Donnerstag veranstalte ich einen kleinen Online-Workshop über "Theater und Archiv" am DLA Marbach. Nachdem ich vor wenigen Tagen im Museum für Fotografie die Ausstellung "Theater im Sucher" über Ruth Walz besucht habe, stellt sich mir jetzt die Frage, wie sich das Verhältnis von Theaterfotografie und Textarbeit beschreiben lässt. Eins der zentralen Probleme ist dabei die Frage, in welchem Verhältnis das einzelne Text- bzw. Bildzeugnis zur Aufführung steht. Stammt es aus dem Probenprozess, von einem Pressetermin, einer regulären Aufführung? Ruth Walz' Arbeiten kennzeichnet, dass ihre Fotos oft einerseits vor dem Hintergrund präziser Kenntnisse des Inszenierungsprozesses entstanden sind und andererseits versuchen, die Zuschauerpersepktive - also die der Aufführung - einzunehmen. Das unterscheidet Walz' Blick auf die Bühne etwa von dem des Theaterkritikers (anders als es Gerhard Stadelmaier im Katalog zur Ausstellung meint). Vielleicht findet sich beim Workshop die Gelegenheit, diese Gedanken aufzunehmen und fortzuführen. 

Wirtschaftsdramatik

18. September 2021
1916 hat Franziska Gräfin zu Reventlow ihren Roman Der Geldkomplex veröffentlicht, den sie ihren Gläubigern widmet. Ironischer kann eine Autorin, ein Autor kaum eigene Schulden thematisieren und sich gleichzeitig über sie erheben. Felicia Zeller, die sich in den letzten Jahren wiederholt Fragen des Wirtschaftslebens zugewandt hat, hat den Roman jetzt dramatisiert. Sie hat dabei eine Form gefunden, die mich sehr überzeugt hat. Darüber und über die Uraufführung in Münster habe ich mir auf nachtkritik ein paar Gedanken gemacht. 

Endlich wieder im Theater!

8. September 2020
Mein erster Theaterabend seit Monaten hat viel Spaß gemacht. Das lag nicht zuletzt an der guten Inszenierung von Matthias Brandts Roman "Blackbird". Meine vollständige Kritik findet Ihr auf nachtkritik.de. Da die Aufführung auch akustisch ihre Reize hat, lohnt es sich, ergänzend Martin Burkerts Kritik für den WDR zu hören.


Polit-Theater

10. Januar 2020

War gestern nach langer Zeit mal wieder für nachtkritik.de im Theater und habe in Münster ein Stück über den vor gut 15 Jahren verstorbenen Politiker Jürgen Möllemann gesehen. War nicht nur wegen des Stoffes interessant, sondern auch, weil der Stücktext sich irgendwo zwischen szenischer Biographie und Textfläche bewegt. Ob’s das überzeugt, könnt ihr bei nachtkritik.de nachlesen.


Klassengesellschaft reloaded

15. September 2019

Aktuell kann im künstlerischen wie im akademischen Diskurs eine Renaissance des Klassen-Begriffs beobachtet werden. Sie war der Ausgangspunkt für ein Arbeitsgespräch der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft. Das Gespräch fand im Literaturforum im Brecht-Haus, Berlin, statt und wurde von Falk Strehlow und Wolfram Ette zusammen mit mir am 10. und 11. September 2019 veranstaltet. In einem kurzen Statement habe ich einleitend versucht, anhand zweier Beispiele zu skizzieren, wie der Klassen-Begriff im Gegenwartstheater thematisiert wird, um zu fragen, ob sich Bezüge zu Heiner Müller herstellen lassen.

 

1. Beispiel: Im April letzten Jahres hatte im Neumarkttheater Zürich das Stück Café Populaire von Nora Abdel-Maksoud Premiere. Es beginnt mit folgendem „Prolog“:

Rampe. Zum Publikum.

Charmant und einladend.

 

Püppi: Hi

Aram: Hi

Don/Svenja: Hi

Don: Das Thema des heutigen Abends ist Klassismus. Wir nennen es auch: Den unbekannten „Ismus.“ Ja, nicht Klassizismus, Klassismus.

Püppi: Hat zu tun mit Klasse.

Svenja: Sozialer Klasse.

Don: Richtig. Da gibt es zum Beispiel diese ganzen TV-Serien über die Unterschicht, das ist übrigens schon klassistisch, „Unterschicht“, wenn man immer von oben nach unten spricht, Frauentausch und so. Jetzt im Moment ist eher Rassismus en vogue. Und Sexismus. Vor allem am Theater.

(Text hier und im Folgenden nach Nora Abdel-Maksoud:
Café Populaire, Beilage in Theater heute August/September 2019).

Abdel-Maksouds Stück beginnt mit einer Szene, die sich souverän der Theatermittel des ausgehenden 20. und des frühen 21. Jahrhunderts bedient: direkte Publikumsansprache, tendenziell diskursiv, mediale Authentizitätsdiskurse thematisierend und damit reflektierend. Schließlich und nicht zuletzt eine anständige Prise Metatheatralität. Auf diese Weise thematisiert das Stück einen aktuellen Diskurs, den Klassismus-Diskurs, den zuletzt Patrick Eiden-Offe grundlegend erforscht hat (in: Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats, Berlin: Matthes und Seitz 2017). Café populaire wählt Theatermittel, denen gewiss nicht abgesprochen werden kann, dass sie aktuell wertgeschätzt werden und dass sie zeitgemäß sind. Die Verbindung zwischen Form und Inhalt überzeugt dadurch, dass wiederholt klassistisches Sprechen sowie diskriminierende Ausdrucksweisen inszeniert werden. In der Schlussszene schießt Svenja in einem Monolog eine Reihe von Prekariatswitzen ab und beendet das Stück mit einer erneuten Hinwendung an das Publikum provokant: „Wieder Scherz. Ich mach nur Witze. Warum man hier so gut Witze über Arme machen kann? Weil sie sich die Karten eh nicht leisten können.“

Der metatheatrale Witz, mit dem Abdel-Maksoud hier arbeitet, gleicht dem, den schon Heiner Müller in Germania Tod In Berlin genutzt hat:

Clown 1 böse: Ich werde dir zeigen, was eine Naturgewalt ist. Schlägt ihn. Ich bin der erste Diener meines Staates.

Clown 2 leckt an dem Krückstock und fängt an, ihn aufzuessen. Den Stock essend, richtet er sich an ihm auf, bis er stocksteif dasteht. Marschmusik, die in Schlachtendonner übergeht. Der Bühnenhintergrund öffnet sich vor einem Feuer, aus dem Sprechblasen aufsteigen: JEDER SCHUSS EIN RUSS JEDER TRITT EIN BRIT JEDER STOSS EIN FRANZOS und in das Clown 2 im Paradeschritt marschiert.

Clown 1 Ich hatt es mir eigentlich anders vorgestellt, weil ich französisch spreche und sehr aufgeklärt bin. Aber es geht natürlich auch.

Der Hund, ebenfalls im Paradeschritt, folgt Clown 2.

Clown 1 zu dem Hund: ET TU, BRUTE!

(Heiner Müller: Germania Tod in Berlin, Berlin 1977, S. 46.)

2. Beispiel. Anfang September hatte Kevin Rittbergers neues Stück IKI.radikalmensch im Rahmen des Festivals Spieltriebe am Theater Osnabrück Premiere. Auch in Rittbergers Drama wird „Klassenpolitik“ thematisiert, ergänzt um das Thema Klimapolitik. Im Zentrum des Stücks von Rittberger stehen die Dialoge zwischen Peter Vogel und der Titelfigur IKI.radikalmensch: eine Intime Künstliche Intelligenz, die aus einer Sexpuppe weiterentwickelt wurde. In einem Monolog schildert Peter eine Begegnung während einer Dienstreise:

Und dennoch schämte ich mich, als ich einem Bauern im Regenwald gegenüber stand, und ihm erklärte, dass der Brandrodungswanderfeldbau nicht mehr klimaverträglich war. Er betrachtete mich von oben bis unten – der weiße Mann erklärt dem Ureinwohner, was er zu tun und zu lassen hat. Aber die Mission war unverzichtbar, darauf hatte sich die progressive Staatengemeinschaft geeinigt, unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht und Religion.

(Alle Zitate aus dem Bühnenmanuskript von Rittbergers Stück.)

Diese Szene gleicht einem monologischen Ausschnitt aus Heiner Müllers Der Auftrag, die Der Mann im Fahrstuhl heißt und künstlerisch schon vielfach bearbeitet wurde:

Ich verlasse den Fahrstuhl beim nächsten Halt und stehe ohne Auftrag, den nicht mehr gebrauchten Schlips immer noch lächerlich unter mein Kinn gebunden, auf einer Dorfstraße in Peru. Trockener Schlamm mit Fahrspuren. … Auf einem grasüberwachsenen Bahndamm basteln zwei Knaben an einer Kreuzung aus Dampfmaschine und Lokomotive herum, die auf einem abgebrochenen Gleis steht. Ich Europäer sehe mit dem ersten Blick, daß ihre Mühe verloren ist.

(Aus: Heiner Müller: Herzstück. Berlin 1983, S. 60-62.)

Nora Abdel-Maksouds Stück entwickelt formal theatrale Verfahren weiter, die Müller spätestens seit Ende der 1960er Jahre literarisch initiiert hat und die auf dem Theater in das mündeten, was gemeinhin postdramatisches Theater genannt wird und was nach meinem Dafürhalten literaturwissenschaftlich als radikale Episierung begriffen werde sollte.

Kevin Rittbergers Stück folgt Müller weniger ästhetisch nach. Vielmehr ahmt er produktiv eine Szene aus Müllers Drama nach, die konzentriert die Widersprüchlichkeit, ja den Widerstreit verschiedener politischer Anliegen vorführt und zum Ausdruck bringt und dabei – auch das erinnert an Müller – nicht frei von Defaitismus ist.

Was die Beispiele damit zeigen, ist die anhaltende formale und – im Fall Rittbergers auch – thematische Aktualität Müllers. Gleichzeitig scheinen Müllers Ausdrucksweisen mit politischen Positionen assoziiert zu werden. Allerdings überrascht das mehr als es überzeugt, denn die politischen Verhältnisse haben sich seit Müllers radikalen Textexperimenten doch entschieden verändert, so dass sich die Frage stellt, ob seine formalen Angebote für die Gegenwart weiterhin gültig sind oder ob es nicht vielmehr an der Zeit wäre, neue Formen zu suchen. Das Arbeitsgespräch hat das immer wieder thematisiert. Die Antworten waren alles andere als einhellig.

© fkhuhn

Am zweiten Tag hatte ich abends das Glück, das neue Buch von B.K. Tragelehn, Roter Stern in den Wolken 2, vorstellen zu dürfen und mit ihm zusammen über sein Buch zu sprechen. Es ist immer wieder eine ganz besondere Erfahrung, mit Tragelehn über seine Arbeiten, seine Zusammenarbeit mit Heiner Müller und über seine Erfahrungen mit Brecht zu reden, bei dem er 1955 Meisterschüler wurde.

Tragelehns neues Buch beginnt mit einem klugen Essay über Brecht und Benjamin, in dem sich eine Schilderung findet, die das Arbeitsgespräch vielleicht ganz gut zusammenfasst:

Selbst Grundbegriffe führten jetzt in die Irre. Seit Jahrtausenden, seit die Menschheit der Arbeitsteilung gehorchend in Klassen gespalten war, die einander entgegen standen, hat sie so oder so oder so geträumt von einer Wiederkehr der Gemeinschaft: den Traum vom Kommunismus. Seit Marx wurde die Erforschung konkreter Voraussetzungen für die Realisierung solchen Traums Gegenstand des Denkens. Das hat man Marxismus genannt. Und Marx sagte, in elegantem Französisch, dass er jedenfalls kein Marxist sei: Tout ce que je sais, c’est que je ne suis pas Marxiste. Das erinnert mich an Brechts Antwort, als sich ihm im Theater nach einer Probe eine Mann mit den Worten vorstellte: Ich bin ein Brechtverehrer. Brecht sagte: Ich nicht.

(B.K. Tragelehn: Roter Stern in den Wolken 2. Berlin 2019, S. 11.)