Gegenwart! Wessen?

Vor ein paar Wochen hat Charles Simic im NYR-Blog die Frage gestellt: „Where Is Poetry Going?“ Offenbar stört ihn der Realitätsbezug der amerikanischen Literatur: „Here in the United States, we speak with reverence of authentic experience. We write poems about our daddies taking us fishing and breaking our hearts by making us throw the little fish back into the river.“ Simic plädiert für die Fiktion, für das Andere in der literarischen Welt, das uns nicht an jeder Straßenecke begegnen muss.

Einen anders akzentuierten Anspruch an die Literatur formuliert der Literaturkritiker Richard Kämmerlings in seinem gegenwärtig viel diskutierten Buch Das kurze Glück der Gegenwart. Deutschsprachige Literatur seit ’89. Anders als ich es erwartet habe, sind seine eigentlichen Helden jedoch nicht die deutschsprachigen Schriftsteller, sondern die amerikanischen Erzähler:

An Autoren wie William Gaddis, Thomas Pynchon, Don DeLillo und David Foster Wallace, aber auch an Philip Roth lässt sich gerade erkennen, dass nur ein kompromissloses Ringen um die erzählerische Form die Stoffe der Gegenwart so fassen kann, dass auch der Leser gefasst und gefesselt wird. (S. 24)

Diese Wertschätzung der Amerikaner ist an sich natürlich nicht schlimm, aber sie irritiert, wenn vor allem über deutsche Schriftsteller gesprochen werden soll und am Ende eine Liste der besten 10 deutschen Romane der letzten 20 Jahre vorlegt wird. Sie irritiert zumal, da sie ihrerseits nicht unumstritten ist (s. Simic).

Wenn ein deutscher Autor ‚amerikanische‘ Erzählweisen wertschätzt, wird ein Roman für Kämmerlings schon allein deshalb bedeutend. Doch macht ein bisschen strukturelle Intertextualität tatsächlich bereits einen großen Roman? Natürlich muss Simple Storys von Ingo Schulze genannt werden, wenn es um die 90er geht. Aber m.E. nicht in erster Linie wegen der stilistischen Orientierung an bedeutenden amerikanischen Erzählern (allen voran Raymond Carver), sondern weil Schulze einen Roman geschaffen hat, der die Vielfalt der Erfahrungen nach der Wende auf den Punkt bringt.

Von seinen Helden leitet Kämmerlings auch seine Wertungsprämisse ab: Literatur habe sich mit „Gegenwart“ auseinanderzusetzen – aber nicht so, wie sie Simic vertreten sieht, nämlich in erster Linie als Auseinandersetzung mit dem Privaten, sondern als Beschäftigung mit dem, was gesellschaftlich relevant ist.

Deswegen kritisiert Kämmerlings beispielsweise den Boom des Familienromans in den letzten Jahren. Der habe in den allermeisten Fällen nicht das abgebildet, was „Gegenwart“ sei. Das meint hier „Patchwork-Realität“ (S. 156). Nun könnte man sich wunderbar darüber das Maul zerreißen, dass inzwischen offenbar sogar Redakteure der Welt die Patchworkfamilie zur Realität erklären.

Freilich soll es darum hier gar nicht gehen. Vielmehr ist just das Gerede von der „Realität“ verräterisch, weil eigentlich gar nicht die gemeint ist, sondern schlicht ‚Normalität‘. Und normal ist das Leben von Kämmerlings mit einer Freundin hier, einem Arbeitsplatz da und einem Kind aus erster Ehe an einem dritten Ort zweifellos. Aber ’normal‘ heißt eben zunächst auch nur: das ist nicht spektakulär. Literatur aber erzählt gerne von dem, was spektakulär ist. Normalität dagegen ist an sich nicht erzählenswert – es sei denn, die Darstellungsweise ist für das Kunstwerk wesentlich. Aber dann ist die Ästhetik entscheidend und nicht die Thematik. Es gibt schließlich auch ganz viele Menschen, die entweder nie Kinder in die Welt setzen oder die einmal heiraten, dann viele Kinder bekommen und ein Leben lang an einem Flecken mit einem Partner leben. Sind sie etwa weniger ‚Realität‘ als die Patchworkfamilien? Wenn Kämmerlings „Realität“ bzw. „Gegenwart“ fordert, meint er Literatur, die seine Lebenssituation spiegelt. Aber warum sollte sie das tun?

Es gibt noch einen zweiten Punkt, der an dem Buch ärgerlich ist: Wenn Kämmerlings „Literatur“ sagt, meint er „Roman“: Es wird keine einziges Gedicht, kein einziges Drama in diesem immerhin 200 Seiten langen Buch ausführlicher erwähnt. Statt dessen folgen immer wieder Inhaltsangaben von Romanen, von denen man nun wirklich nicht jeden kennen muss.

Problematisch ist die fehlende Auseinandersetzung mit Lyrik und Dramatik freilich nicht, weil dadurch deutlich wird, dass der im Untertitel formulierte Anspruch nicht eingelöst wird bzw. zu groß ist. Problematisch ist sie, weil viele der Themen, die Kämmerlings für ‚gegenwartsrelevant‘ erklärt, eben dort verhandelt werden.

Es mutet schon komisch an, wenn er sich beklagt, dass der Balkan-Krieg der 90er die deutschen Autoren nicht beschäftigt habe. Nicht nur, dass man hier mal kurz auf die gewiss fragwürdige Auseinandersetzung mit dem Krieg durch Peter Handke hätte hinweisen können. Vor allem berücksichtigt diese Kritik nicht, dass die Auseinandersetzung vehement auf dem Theater stattgefunden hat – einem Ort übrigens, wo das Verhältnis von Gesellschaft und Krieg schon seit der Antike verhandelt wird. Und für die Familie als Patchwork und Katastrophe ist das Drama sogar die Gattung schlechthin.

Kämmerlings aber nimmt das literarische Leben jenseits der Romane kaum zur Kenntnis. Wenn er es einmal tut, macht er das nur, um letztlich wieder in der Welt der kommenden Romane zu landen: etwa wenn er vom Bachmann-Preis in Klagenfurt oder von einem Open-Mike-Wettbewerb am Prenzlauer Berg berichtet. Ansonsten aber scheint er immer nur fleißig Romane zu lesen. Das ist ja auch eine schöne Sache. Aber warum mich das interessieren soll, weiß ich nicht – und was das mit Gegenwart zu tun hat, weiß ich auch nicht.

Selbstredend ist seine Gegenwart eine andere als meine. Das ist eh klar. Um den individuellen Zugriff auf Literatur interessant zu machen, muss man also zumindest darlegen, was die eigenen Kriterien für die Auswahl sind, damit die Leser das Gelesene beurteilen können. Bei der Lektüre dieser vermeintlichen Literaturgeschichte aber sind mir die Kriterien für die Auswahl von Anfang bis Ende in keiner Weise deutlich geworden – jenseits der Behauptung, dies oder das sei halt Gegenwart. Ich hätte z.B. schon gerne gewusst, warum Herta Müller nur peripher behandelt wird, während von Romanen aus den 90ern, die heute weitgehend vergessen sind, seitenlange Inhaltsparaphrasen vorgelegt werden.

Statt einer Auseinandersetzung mit wesentlichen Ereignissen des literarischen Lebens finden sich immer wieder kleine Sätze, die nach Zustimmung heischen, aber in Wirklichkeit nichts anderes als intellektueller Populismus sind (linker übrigens). Oder was sollen Feststellungen wie:

Doch möchte man allen Schreibschulen raten, die Studenten strenger zu solchen Begegnungen der dritten Art zu zwingen: Geht doch mal in eine Suppenküche oder verbringt ein paar Wochen in Kenia – statt der immer gleichen Villa Aurora (in Los Angeles) oder Massimo (in Rom). Was dabei rauskommt, können wir uns denken. (S. 150)

Ich würde ja gerne im Umkehrschluss wissen, was aus Goethe oder Thomas Mann geworden wäre, wenn sie mal ein paar Wochen in der Suppenküche oder gar Kenia verbracht hätten. Wahrscheinlich ganz viel Gegenwart und nicht so viel zeitloser Scheiß.

3 Responses to Gegenwart! Wessen?

  1. Du hast vollkommen recht, was Deine Kritik an Kämmerlings angeht: er verwechselt schlicht Realität und Normalität – und außerdem, wie Simic ja berechtigterweise einwendet, geht es doch darum, daß der Schreibende über alles Reale und Normale hinaus jenen Bereich zumindest streift, den man Phantasie/Fiktion nennt. Dazu bedarf es der Einbildungskraft, keiner Aufenthalte in Suppenküchen…

    • kai bremer sagt:

      Vielen Dank für die Zustimmung. Die Liste der Defizite ließe sich ja noch fröhlich verlängern: Was ist etwa mit so angestaubten Begriffen wie Ästhetik, Schönheit, Erhabenheit, Überraschung? D.h. nicht, dass ich zu Schiller zurück will, aber wenn Literatur keine sprachkünstlerischen Ansprüche stellt, dann kann man eben auch gut einen Film anschauen. Kannst Du für Deine Lyrik schildern, ob und wie sich das Verhältnis von Fiktion und sprachkünstlerischem Anspruch darstellt? Vielleicht wäre das Mal ein paar längere Diskussionen zwischen uns wert?

      • Das ist ein sehr interessanter und sehr schwieriger Punkt – den man wahrscheinlich auch für Prosa und Lyrik separat diskutieren müßte. Auf Kämmerlings bezogen, kann man jedoch getrost sagen, daß dies eine Betrachtungsweise ist, die den sprachlichen Zustand des Kunstwerks, das Vokabular, die Syntax, die Sprachmelodie, usw. vollkommen aus den Augen verloren hat: Sie nimmt Literatur nicht mehr als Literatur wahr. Gelesen wird bei einer solchen Hermeneutik, um anschließend qualifizieren zu können. Im Grunde findet also keine Lektüre mehr statt, und mir scheint, daß dahinter eine bestimmte, unbewußte Strategie steckt: Die wirkliche Erfahrung von literarisch geformter Sprache könnte zu einem Ende des weitgehend üblichen Jargons in der Literaturkritik führen, sie wäre eine Art Schock; sie „muß“ also vermieden werden…

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