Als ich in diesen Tagen Aller Welt Freund von Jurek Becker gelesen habe, hat mich das Nachwort genervt. „Selbst schuld, wer liest schließlich schon Nachworte!?“, könnte ich mir jetzt sagen. Die Antwort lautet natürlich: zumindest die, die selbst welche schreiben. Doch wie auch immer. Ich habe mich auf jeden Fall geärgert. Denn dieses Nachwort ist typisch für die Auseinandersetzung mit DDR-Literatur. Der Roman erschien Anfang der 80er und im Nachwort zu meiner Ausgabe (Leipzig: Faber & Faber 2002) wird sofort losgelegt mit einer klaren politischen Verortung Beckers zwischen Ost und West:
Auch er ist weggegangen. Auch er hatte in den Siebzigern das eine gegen das andere deutsche Land eingetauscht. Wie manche vor ihm und viele andere nach ihm. In seinem Paß, den für mehr als ein Jahrzehnt noch Farbe und Emblem der Deutschen Demokratischen Republik zieren sollten, befand sich ein Visum, das ihm die unbeschränkte Aus- und Einreise erlaubte. Diesen Paß, ein Privilegium, besaß er, ein für damalige Verhältnisse Privilegierter, seit Anfang der Siebziger. (S. 171)
Als ich das Nachwort las, habe ich mich nicht etwa geärgert, weil einer mit einem Privileg naturgemäß ein Privilegierter ist (und auch nicht über die ach so gebildet daherkommende lateinische Schreibweise). Solche sprachlichen Nervereien passieren schon mal. Nein, es war, weil Beckers kurzer Roman in manchen Situationen nicht nur komisch ist (und dementsprechend ganz und gar unmelancholisch), sondern mir geradezu aktuell erschien (was mir selten passiert und mich eigentlich auch gar nicht so sehr interessiert). Auf jeden Fall: Nichts von Ausreise, Einreise, Stasi, Knast, was weiß ich. Nein, ganz anders. Aus der Ich-Perspektive wird geschildert, wie ein depressiver Redakteur nach einem gescheiterten Suizid-Versuch die ersten Tage verbringt. Aktuell ist der Roman dabei nicht nur, weil man an den Gedanken des Erzählers beeindruckend genau teilhat, sondern weil die Menschen um ihn herum vielfach so unkompliziert sind, geradezu vorbildlich. So geht z.B. der Chef regelrecht freimütig mit den Problemen seines Mitarbeiters um:
Der Mann, von dem ich spreche, ist ein Kollege von Ihnen. […]. Heute nennt er die ganze Geschichte seine depressive Phase. Ich will offen zu ihnen sein, mein Junge: Vor kurzem habe ich ihn gefragt, was für Ratschläge man einer Person geben könnte, der es ähnlich geht wie damals ihm. (S. 156)
Nun kann ich es sehr gut verstehen, dass man in einem Buch, das in einer Reihe namens DDR-Bibliothek erscheint, immer wieder zu historischen Verortungen ansetzt. So wird dann auch in dem Nachwort über Beckers Weggang aus der DDR berichte und über die Schwierigkeiten der Publikation von Aller Welt Freund in der DDR. Aber muss man das wirklich? Kann man nicht einfach mal über ein gutes Buch schreiben, dass es gut ist, ohne zu erwähnen, dass es zu einer Zeit erschienen ist, als zwei deutsche Staaten kooexistierten (kann man sich schließlich ausrechnen), ohne mit dem Zeigefinger auf Beckers gewiss nicht immer leichte Situation hinzuweisen. Weder Ostalgie noch Anklage, das wär’s. Aller Welt Freund ist gerade deswegen ein starkes Buch, weil es weder glorifiziert noch offen kritisiert, sondern den Leser mit diesem Erzähler ganz allein lässt. Und diese Zweisamkeit kommt bestens aus ohne historisches Tralala.