Einst schrieb der fünfzigjährige Gotthold Ephraim Lessing ein Theaterstück. Das Leben hatte ihm zuletzt sowohl beruflich als auch privat übel mitgespielt, trotzdem legte er mit Nathan der Weise ein Stück vor, mit dem er sich in die Literaturgeschichte geschrieben hat. 1779 war das.
Und weil zu Lessings Zeit dauernd Raubdrucker Bücher von prominenten Schriftstellern kopierten, um damit unabhängig vom Autor Reibach zu machen (ein wirkliches Urheberrecht gab es nicht), entwickelte Lessing ein Subskriptionsprinzip: Er kündigte den Nathan an verschiedenen Stellen an und forderte seine Leser auf, die Erstauflage über Buchhändler zu bestellen.
In diese Erstauflage haben sich jedoch zahlreiche Fehler eingeschlichen. Als es kurz nach dem Erscheinen zu einer zweiten Auflage kam, konnte Lessing einige Fehler korrigieren lassen. Noch im selben Jahr erschien eine dritte, von Lessing autorisierte Auflage. Da er im Februar 1781, also knapp anderthalb Jahre später, starb, wurde keine weitere Ausgabe mehr veröffentlicht, die für sich beanspruchen kann, von Lessing autorisiert zu sein.
Welche Ausgabe aber ist nun der ‚wahre‘ Nathan?
Konstellation und Frage erinnern frappierend an die der Ringparabel im Nathan. Und ähnlich wie dort fällt die Antwort aus. Allerdings nicht ganz, wie ihr gleich lesen werdet. Konkret darüber nachgedacht hat eigentlich nur der Lessing-Kenner und Editionsphilologe Winfried Woesler zusammen mit Dieter Neiteler. Sie haben die Ergebnisse ihrer Arbeit vor knapp 15 Jahren vorgelegt („Zur Wahl der Textgrundlage einer Neuedition von Lessings Nathan der Weise„, in: Lessing-Yearbook 31 (1999), S. 39-64). Ich fasse sie knapp zusammen.
Klar ist zunächst eins: Wie bei der Ringparabel dürfen wir nicht davon ausgehen, dass eine der drei Fassungen vom Nathan der ‚wahre‘ respektive ‚echte‘ Nathan ist – in dem Sinne, dass wir sagen können: So hat sich Lessing das exakt Wort für Wort, Punkt für Punkt gedacht. Den Druck, den der damals berühmte Berliner Verlag Voß verantwortet hat, hat Lessing nur aus der Ferne begleiten können. Die schließlich publizierten drei Fassungen vom Nathan haben im Großen und Ganzen zwar den Vorstellungen des Autors entsprochen. Aber im Detail gibt es von Lessing noch unbedachte Formulierungen und Druckerfehler, die er vermutlich gerne korrigiert hätte, aber nicht hat. Es gibt Hinweise, die das bestätigen. Diese Situation konnte bei allen drei Druckgängen überhaupt nur eintreten, weil es zu umfassenden Fahnenkorrekturen mit mehreren Korrekturdurchläufen, wie es heute gang und gäbe ist, nicht kam.
In der Geschichte der Nathan-Ausgaben ereignete sich nun in etwa eine Dynamik, wie sie ansatzweise auch in der Ringparabel angedeutet wird: Jeder meinte, den wahren Ring zu besitzen, niemand dachte über seine genaue Geschichte nach. Das gilt für die ganz überwiegende Mehrheit der Nathan-Ausgaben. Sie haben zumeist nicht den originalen Druck als Textgrundlage gewählt, sondern die historisch-kritische Ausgabe von Karl Lachmann und Franz Muncker aus dem späten 19. Jahrhundert. Die beiden Philologen legten die dritte Ausgabe zugrunde, weil sie sie als „Ausgabe letzter Hand“ betrachtet haben. Allerdings heißt das im Fall dieser Ausgabe zunächst lediglich, dass Lessing diese Ausgabe autorisiert hat, nicht aber dass sie in besonderem Maße seinem Willen entspricht.
Hätte man in den vergangenen 100 Jahren etwas genauer nachgesehen, wäre vielleicht dem einen oder anderen Nathan-Herausgeber aufgefallen, dass Muncker selbst in einem späteren Band der historisch-kritischen Ausgabe erste Zweifel an dieser Entscheidung angemeldet hat. Trotzdem sind spätere Editoren fröhlich der Entscheidung für die dritte Ausgabe gefolgt.
Einen etwas anderen Weg geht der von Klaus Bohnen und Arno Schilson herausgegebene Nathan im Deutschen Klassikerverlag. Da in dieser von Wilfried Barner verantworteten Werkausgabe stärker als sonst üblich die Rezeption der Werke berücksichtigt werden soll, legt sie die erste Ausgabe, die Subskriptionsausgabe, zugrunde.
Woesler und Neiteler haben überzeugend dargelegt, dass aus verschiedenen Gründen die mittlere Ausgabe diejenige ist, die den Vorstellungen Lessings besonders nahekommt. Sie haben also unsere Parabel nicht dahingehend aufgelöst, dass es die eine ‚wahre‘ direkt vom ‚Vater‘ überantwortete Ausgabe gibt. Aber es gibt immerhin Gründe, warum man sich nicht an die beiden anderen halten sollte, wenn man möglichst ‚viel‘ Lessing haben möchte, sondern an diese mittelere.
Der Aufsatz von Woesler und Neiteler wird bisher zwar in der Fachforschung immer mal wieder erwähnt, er zeitigte bisher aber keine Folgen in der Editionspraxis. Deswegen ist der kleine Philologe froh, dass nun endlich eine Nathan-Ausgabe vorliegt, die diese Überlegungen umsetzt, und auch ein wenig stolz, dass sein Name als einer der beiden Herausgeber dort zu lesen ist. Uns Herausgebern ist durchaus klar, dass die Ausgabe nicht alle Ansprüche der großen Philologen erfüllt. Aber eine Studienausgabe, die immerhin RECLAMieren kann (soviel Wortspiel muss sein), eine bessere Textgrundlage zu haben als die historisch-kritische Ausgabe, ist ja keine schlechte Sache.
Zeigt sich einst, dass, anders als wir denken, doch davon ausgegangen werden muss, dass alle drei Ausgaben ähnlich weit von Lessings Vorstellungen entfernt sind, würde freilich aus der Nathan-Parabel schließlich doch noch eine wahre Ringparabel mit ‚unwahrem‘ Nathan.
Vorzüglich gemacht. Glückwunsch, mein Lieber!
Danke Dir!