Philologischer Sophismus

Thomas Steinfeld, Leiter des Feuilletons der Süddeutschen Zeitung, ist nicht nur ein Kenner des Literarischen Lebens, sondern auch ein kluger Liebhaber der Philologie – und er zeigt das auch gerne. Jüngst hat er ein Loblied auf die philologische Skepsis publiziert (in: Jürgen Paul Schwindt: Was ist eine philologische Frage?, Frankfurt/Main 2009, S. 211-226), in das ich so gerne miteinstimmen möchte – frei nach dem Lebensmotto aller Philologen: Skeptiker aller Ländern vereinigt Euch!

Steinfeld macht überzeugend klar, dass Philologie nicht die Aufgabe hat, ein literarisches Werk literaturkritisch und philosophisch zu bewerten. Diese These entlehnt er dem großen Philologen August Böckh. Als zweiten Gewährsmann führt Steinfeld, und das mag zunächst überraschen, Paul de Man an. Der habe in einem „Aufsatz zur Lage der Disziplin“ (S. 224) eben eine solche Skepsis gefordert, die das Werk nicht in einem klar umrissenen Feld kulturell gesicherten Wissens verortet, sondern eben einer solchen Praktik skeptisch misstraut.

Leider zitiert der Philologe Steinfeld den Aufsatz von de Man nicht richtig (seine Fußnote erweckt den Eindruck, als handle es sich um The Resistance to Theory und nicht etwa um Return to Philology, in: The Resistance to Theory, Minneapolis, London 1986, S. 21-26).  Auch geht es de Man nicht um irgendeinen Lagebericht, er polemisiert offen gegen ideengeschichtlich und moralisierend argumentierende Kollegen. Schließlich verkürzt Steinfeld de Man, wenn jener meint, dieser habe gefordert, sich auf die Philologie des 18. Jahrhunderts rückzubesinnen. Das interessiert de Man aber gar nicht, vielmehr kritisiert er: „The link between literature (as art), epistemology, and ethics is the burden of aesthetic theory at least since Kant.“ (S. 25)

Was de Man will, ist vielmehr ein Zurück zu einem Verständnis von Philologie, wie es in der Antike entwickelt wurde und bis in die Frühe Neuzeit hinein gültig war: Es geht ihm um eine Allianz von Rhetorik und Philologie, die er primär als deskriptive Wissenschaften versteht und die die Dynamiken eines Textes präzise erfassen und darlegen soll – nicht mehr. Wenn Steinfeld über dieser Forderung stillschweigend hinweg geht und meint, die moderne Philologie gebe „das Theologische, den Anspruch auf Wahrheit […] ja nicht auf“ (S. 225), dann hat er nicht unrecht – aber dann konstatiert er eben eine Praktik, gegen die de Man opponiert. Steinfeld suggeriert eine Harmonie zwischen Skepsis und Sinn, wo sie sich laut de Man unvereinbar gegenüberstehen. Und da dessen Aufsatz in Deutschland weitgehend unbekannt ist (eine deutsche Übersetzung liegt derzeit nicht vor), kann Steinfeld darauf hoffen, dass ihm niemand auf die Schliche kommt – ethisch argumentierende Rhetoriker und später auch Philologen hatten einen Namen für ein derart geschicktes Argumentieren: Sophismus.

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