Der Ton macht bekanntlich die Musik – das gerollte Zungenspitzen-R trägt dazu aber nicht mehr bei:
Reinhart Meyer-Kalkus hat jüngst in einem großen Zeitungsartikel (Die Kunst, pathetisch zu sprechen, in: FAZ, Nr. 262, 11.11.2009, S. N4) sehr überzeugend dargelegt, warum das allgemeine Urteil vom Verlust des hohen Tons in Kunst und Politik nicht ohne weiteres zu halten ist. Vielmehr habe sich die Deutung von Merkmalen pathetischen Sprechens verschoben. Ein Beispiel, das er vorstellt, ist das gerollte Zungenspitzen-R, das bis weit in die 60er Jahre hinein Ausdruck für den hohen Ton und für gelerntes Sprechen gewesen sei (jenseits von süddeutschen Dialekten). Dieses „R“ ist auch im Film und auf dem Theater langsam seinem weniger aggressiv wirkenden Bruder, der im Rachen beheimatet ist, gewichen.
Derzeit lese ich den berühmten DDR-Roman Die Spur der Steine von Erik Neutsch (zuerst 1964). In ihm kommt der LPG-Leiter Windisch auf einen Hof, um den Bauern vom Beitritt zur LPG zu überzeugen (S. 200f., in der Ausgabe Leipzig 1996): „Windisch sagte: ‚Gutt, daß du kommst, Johann. Wirr sind nurr mal auf dem Sprrung vorrbei.‘ Er rollte stark das R und sprach die Wendungen ungewöhnlich hart aus. Er stammte aus Schlesien […].“
Die meisten Figuren im Roman sprechen normales Schriftdeutsch, der Hinweis auf die Herkunft beantwortet also nicht die sprachlichen Eigentümlichkeiten, wie man zunächst meinen könnte. Deswegen wirkt die Abweichung von der Norm nicht etwa besonders natürlich, sondern gerade künstlich. Neutsch führt Windisch schon mit dem ersten Satz als eine Figur ein, die ‚künstlich‘ spricht – erlernt und damit rhetorisch. Er diskreditiert den Funktionär. Kein Wunder, dass ihm die Figuren mit Argwohn begegnen – zumal ja auch sein Name ihn bloßstellt.