Unbedingte Universität II

Gilles Deleuze  hat schon 1990 in Auseinandersetzung mit Foucault die Ablösung der Disziplinargesellschaft durch die Kontrollgesellschaft beschrieben. In seinem Postskriptum über die Kontrollgesellschaften (jetzt wieder abgedruckt in: Was ist Universität?, Zürich 2010, S. 11-16) erklärt er mit Hinweis auf Kafka, dass dieser ‚Prozess‘ u.a. durch Permanenz gekennzeichnet sei: Während in der Disziplinargesellschaft Phasen existierten, die weitgehend frei von Überprüfungen waren, wird in der Kontrollgesellschaft die Überprüfung permanent. Das hat auch für die Bildungsinstitutionen weitreichende Folgen:

Das modulatorische Prinzip des „Lohns nach Verdienst“ verführt sogar die staatlichen Bildungseinrichtungen: Denn wie das Unternehmen die Fabrik ablöst, löst die permanente Weiterbildung tendenziell die Schule ab, und die kontinuierliche Kontrolle das Examen. Das ist der sicherste Wege [sic!] die Schule dem Unternehmen auszuliefern. (S. 13)

Das perfide an diesem System ist laut Deleuze, dass man niemals fertig wird. In diesem Sinne kann man die Appelle und Angebote zum lebenslangen Lernen auch als Drohung begreifen. Was gerne im Gewand der Chancengleichheit und Gleichberechtigung daherkommt, ist im Sinne von Deleuze nichts anderes als ein Instrument der immer weitreichenderen Kontrolle.

Bemerkenswert an diesem Ablösungsprozess ist dabei, dass Deleuze seine Anfänge offenbar schon vor 100 Jahren sieht. Wenn er damit recht hat, dann wären die Reformen an den europäischen Universitäten der letzten Jahre wohl nichts anderes als eine verspätete Anpassung an die Kontrollgesellschaft. So verstanden wäre selbst die Universität mindestens der 70er, 80er und auch 90er Jahre letztlich nichts anderes als ein Relikt einer längst untergegangenen Epoche. Das würde auch erklären, warum schon damals so viele Studenten sich beschwerten, sie seien für ein Referat nicht richtig motiviert worden, das präsentierte Wissen sei doch gar nicht für den zukünftigen Beruf verwertbar, man lerne an der Uni gar nicht richtig, weil da viel zu wenig Druck gemacht würde. Machen wir uns nichts vor, die Akzeptanz für die Reformen war längst da, weil die Kontrollgesellschaft längst Realität war.

Vielleicht war deswegen auch der Protest vor einem Jahr an vielen Orten so diffus. Nach der Lektüre von Deleuze‘ Aufsatz drängt sich der Eindruck auf, dass manche die Universität der Disziplinargesellschaft zu einem Ideal verklärten (was allerdings nur die tun konnten, die in ihr nicht studiert haben), während andere die Ziele der Modularisierung im Dienste der Kontrollgesellschaft grundsätzlich akzeptierten. Letztlich war dieser Teil der Protestierenden nur unzufrieden nicht mit dem Anliegen, sondern nur mit den Ergebnissen, weil die Bologna-Reformen vielerorts nichts anderes als ein Hybrid aus gestern und heute generierten. Statt Bologna stoppen zu wollen, hätte ihr Schlachtruf lauten müssen: „Forza Bologna!“

Nur in einem Punkt scheint die Anpassung an die Kontrollgesellschaft tatsächlich schon jetzt voll und ganz erfolgreich zu verlaufen, nämlich bei der Anpassung der Universität an die moderne Marktwirtschaft – zumindest wenn Deleuze recht hat: „Der Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch.“ (S. 15)

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