Irrtümer

Vor 15 Jahren starb Heiner Müller. Als gut zwei Jahre nach seinem Tod die Nachricht die Runde macht, dass seine Gedichte den Auftakt zur Werk-Ausgabe bilden werden, bestelle ich das Buch umgehend vor und kann es nach mehreren Nachfragen endlich bei meinem Buchhändler in Göttingen abholen.

1998 war das. In Göttingen nahm man die Trauer nicht wahr, die in Berlin auch zwei Jahre nach seinem Tod vielfach zu spüren war, vor allem an den Theatern dort. Die Distanz erleichterte die Lektüre. In den folgenden Tagen las ich nicht nur den Band, sondern auch alle Rezensionen der Ausgabe in den einschlägigen Tageszeitungen. Noch heute finden sich einige von ihnen in mein Exemplar eingelegt; sie belegen, wie sehr die Gedichte ein Ereignis waren.

Gerade seine letzten Gedichte habe ich wieder und wieder gelesen. Auch kenne ich dazu einige Interpretationen, die meinen Eindruck bestätigt haben, dass diese Gedichte herausragende Auseinandersetzungen mit der Todesliteratur und insbesondere der Todeslyrik verschiedener Epochen und Literaturen sind – vor allem mit der stoischen Literatur Senecas.

Vor einigen Wochen nahm ich den 2005 erschienenen Band „Der Tod ist ein Irrtum“ erstmals in Ruhe in die Hand und las dieselben Gedichte wieder, eingebettet zwischen den Polaroidfotos von Brigitte Maria Mayer und den handschriftlichen, oft schwer leserlichen Notizen Müllers. Diese Rahmung verändert alles – die Gedichte sind andere, wenn sie neben den Fotos des schwerkranken Autors abgedruckt sind.

Müller hat wie kein anderer den Tod des Autors dramatisiert und dadurch einen unvoreingenommenen Blick auf die Bilder unmöglich gemacht. Man kommt sich vor wie ein Voyeur, obwohl man zum Zuschauen eingeladen wird. Kein Gedanke mehr an die Literaturgeschichte, volle Konzentration auf Müller. Nie war mir deutlicher, wie sehr Wahrnehmung variieren können. Eigentlich banal. Nur weiß ich nicht, wie ich damit umgehen, in welcher Ausgabe ich lesen soll, wenn ich die Gedichte wiederlesen möchte. Nicht nur der Tod ist ein Irrtum.

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2 Responses to Irrtümer

    • kai bremer sagt:

      Hey mein Lieber, danke für den Hinweis! Habe inzwischen schon die ersten 6 Stunden gehört – entschuldige die späte Antwort. Natürlich ist eine solche Sammlung nur was für Fanatiker wie mich, aber die sind fasziniert und machen, während sie zuhören, wenigstens nichts Dummes. Ein erster Gruß an dieser Stelle an Kristin Schulz, die das ganz und gar herausragend alles konzipiert hat. Ein ausführlicher Kommentar folgt noch, wenn ich noch ein paar Stunden gehört habe.

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