Blut, Schweiß und ???

Ekkehart Krippendorff hat letztens im Freitag (Nr. 22, S. 15) die Frage aufgeworfen, warum wir im Theater nicht mehr weinen. Ich habe mich natürlich sofort gefragt, wann ich zum letzten Mal im Theater geweint habe. Wenn mich meine Erinnerung nicht völlig täuscht, ist das schon sehr lange her. Ich war acht Jahre alt, als Winnetou direkt vor meinen Augen auf der Freilichtbühne in Elspe erschossen wurde. Ich kämpfte mit den Tränen, hatte sie aber noch unter Kontrolle. Winnetou wurde abgedeckt, Old Shatterhand trat an den Bühnenrand und hielt eine Trauerrede. Er schloss mit den Worten: „Winnetou ist tot, aber in unseren Herzen lebt er weiter.“ Und in dem Moment ritt Winnetou wieder am oberen Rand der Freilicht-Bühne hervor. Da konnte ich nicht mehr – zumal natürlich punktgenau die Winnetou-Melodie von Martin Böttcher erklang.

Ich erzähle das hier nicht, weil ich mich über Krippendorf lustig machen will. Ich finde Wirkungsästhetik in vielerlei Hinsicht eine spannende Sache. Aber mir fiel diese Situation sofort ein, weil sie zeigt, dass es solche und solche Tränen gibt: Krippendorf meint, wenn er von Tränen spricht, Lessings Mitleidsästhetik. Sie ist im Kern eine politische Theorie. Meine Tränen aber hatten mit Mitleid in diesem Sinne nichts zu tun, sondern mit Traurigkeit und Rührung durch Pathos. Die Grenzen zwischen dem einen und dem anderen sind natürlich nicht immer klar zu ziehen, aber ich bin mir schon sicher, dass ich kein Mitleid fühlte bei meinem Tränenausbruch. Ich weinte auch nicht, weil ich in Winnetous Tod sowas wie das Ende der Humanität symbolisiert sah. Ich weinte, wie andere in Titanic weinten.

Es gibt also unterschiedliche Motivationen für Tränen. Und es gibt auch sowas, das vielleicht Tränen-Konjunkturen genannt werden könnte. Das Beispiel, das Krippendorf nennt (die Reaktionen auf Schillers Räuber), stammt aus einer Zeit, als es eine ganz andere soziale Akzeptanz von Tränen im Theatersaal gab als heute. Wer heute medial zu großen Emotionen angeregt werden will, dem fällt nicht gleich das Theater ein. Meistens legt er eine DVD ein. Das war im 18. und 19. Jahrhundert selbstredend nicht möglich und so ging man dafür ins Theater. Man kann also beklagen, dass das Theater in diesem Bereich seine Vorherrschaft an den Film abgegeben hat. Die Frage ist nur, ob Krippendorffs Hinweise damit schon erledigt sind.

Im Kern formulieren sie nämlich ein ganz anderes, ein strukturelles Problem jenseits des Medienwandels. Der Hinweis auf die Tränen des 18. Jahrhunderts mag dem ersten Eindruck nach erscheinen wie eine um ein paar Aspekte der Wirkungsästhetik erweiterte Werktreue-Debatte. Doch darum geht es nicht. Krippendorf hat sehr präzise zur Kenntnis genommen, dass die derzeit erfolgreichen Theatermodelle just der Gegenentwurf zum oben skizzierten Theaterverständnis sind. Sie firmieren vielfach unter dem Schlagwort ‚Diskurs‘. Auch dazu gibt es derzeit, gegen Ende der Theatersaison, zahlreiche Überlegungen. So hat diese Woche dradio Kultur einen Beitrag über das Theater als „Theorie-Tanker“ gesendet.

Krippendorffs Artikel wirft letztlich nichts anderes als die Frage auf, warum dieses Theater entgegen seinem Anspruch kaum politische Wirkung zeitigt. Seine Antwort lautet schlicht, dass politische Wirkung ohne emotionale Beteiligung kaum erreicht werden kann. Das ist bestimmt ein berechtigter Einwand. Das Problem seiner Kritik scheint mir nur zu sein, dass es anders als zu anderen Zeiten im Moment sehr schwer zu sagen ist, wie sowas wie eine Emotionalisierung des Theaters erreicht werden kann.

Der ‚Theorie-Tanker‘ ist schließlich nicht selten eine Mischung aus antimimetischer Ästhetik und einer Portion postmoderner Ironie. Die meisten Theatererfolge feierte er letztlich schon in den 1990er Jahren. Wenn man sich an sie erinnert, sollte man nicht so tun, als wären sie ohne emotionale Beteiligung ausgekommen. Aber sie setzten eben nicht auf Gefühle, die man vielleicht auf den gemeinsamen Nenner ‚Mitleid‘ bringen kann, sondern eben auf ironische Distanzierung.

So gesehen zielt der Angriff Krippendorffs eben doch ins Leere, weil er unterstellt, dass die Theatermacher Gefühle einfach außer Acht ließen. Aber so einfach ist das nicht. Vielleicht findet sich derzeit schlicht kein gemeinsamer Nenner, so dass alles disparat erscheint und weder eine neue Tränen-Konjunktur am Horizont heraufzieht, noch von den Harald Schmidts des Theaters die alte Strahlkraft ausgeht.

Eine Lösung könnte vielleicht eine Rückbesinnung auf eine möglichst vielfältige, den Zuschauer durch den Reichtum der Ideen überfordernde Ästhetik sein, die dem Diskurs ebenso wie dem Mitleid eben nicht absagt, aber auch nicht das eine oder das andere in den Mittelpunkt stellt. Eine solche Ästhetik versucht eben gerade nicht, primär durch die Referenz auf das Außerhalb des Theaters zu überzeugen, sondern dadurch, dass es eine im besten Sinne des Wortes phantastische Gegenwelt erzeugt. Kulturwissenschaftler würden eine solche Form des Theaters mit Foucault vielleicht als Heterotopie bezeichnen.

Anlass für diesen Gedanken war die Uraufführung von Tom Peuckerts Gedächtnisambulanz in der Regie von Patrick Schimanski. Was da in Bielefeld geleistet wurde, war nicht weniger als ein surrealer Theaterabend, dessen Stärke gerade darin bestand, dass er so vielfältig war, dass wohl in jedem Zuschauer andere Assoziationen ausgelöst wurden und so die emotionale Beteiligung auch ganz unterschiedlich ausfallen konnte. Als die Zuschauer aus dem Theater traten, schienen einige noch ganz betroffen zu sein, andere angesichts der Bilderflut erschlagen, andere wiederum sprachen über eigene Erfahrungen mit Demenz-Kranken. Und der kleine Philologe freute sich zudem noch über die mal versteckten, mal offensiven Anspielungen auf die große und kleine Literatur in Peuckerts kurzem Stück.

Vielleicht besteht die große Herausforderung des Theaters eben darin, dass es nicht überlegt, ob es die großen Gefühle an- oder ausschalten soll, sondern darin, Theater so zu machen, dass die, die Gefühle anschalten wollen, das auch tun können, während die, die es nicht wollen, sie auch ausgeschaltet lassen können, ohne sich gleich über die ‚Anschalter‘ lustig machen zu müssen.

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4 Responses to Blut, Schweiß und ???

  1. Daniel sagt:

    Bart: Nothing you say can upset us, we’re the MTV generation.
    Lisa: We feel neither highs nor lows.
    Homer: Really? What’s that like?
    Lisa (shrugs): Meh…

    Das Problem mit Pathos: Damits noch wirkt, muß es inzwischen (weil die Densenibilisierung und allgemeine Panikmache solcherart voranschreitet, daß Winnetous Tod heute niemanden mehr zum Heulen bringt) ziemlich stark dosiert sein, und dann wirds albern und wirkt auch nicht mehr.
    Das mit der phantastischen Gegenwelt spricht mir aus dem Sinn. Aber ein solches Theater gibts in Deutschland schon, da wird immer vor vollem Haus gespielt und es braucht keine Kultursubenvtionsprogramme: Man nennt das „Musical“ und es ist so eine Art Barocktheater mit Lasershow und Drumcomputer.

    • kai bremer sagt:

      Vielleicht habe ich ja mit dem Hinweis auf Winnetou eine etwas falsche Richtung eingeschlagen, das gebe ich gerne zu. Aber: Musical hat mit gutem Theater sehr wenig zu tun, weil es eben nicht nur auf Pauken und Pathos setzt, sondern auch auf Erfüllung des Erwarteten. Es ist deswegen ähnlich eindimensional wie großes Kino. Wenn mir die Dramaturgie nach 10 Minuten klar ist, bleibt nur die Freude am Detail. Das ist der fundamentale Unterschied zu gutem Theater, insbesondere zu neuen Stücken.

      • Daniel sagt:

        Nö, ich finde das Winnetou-Beispiel gut. Wer da weinte, war ein emotional am Geschehen beteiligter kleiner Junge, der den Tod Winnetous beweinte, als sei der ‚in echt‘ gestorben.
        „Musical hat mit gutem Theater sehr wenig zu tun“ – hab ich auch nicht gesagt. Theater =I= gutes Theater, trotzdem ist der Unterschied zwischen beiden natürlich nicht kategorisch.
        Wenn Dir nach 10 min. nur noch die Freude am Detail bleibt, bist Du fürs Musical eben schon genauso verdorben wie ich es anno ’90 für Winnetou war. Wer kritisch auf die Funktionsweise schaut, kann eben nicht emotional beteiligt sein, zur Illusion gehört eben die „willing suspension“ der Einwände dagegen. Ich will Musicalfreunde ja nicht simpel gestrickt nennen, aber (na gut, will ich doch). Wen die Dramaturgie an nichts erinnert, kann auch im hohen Alter noch im Musical sitzen und lachen, weinen und sich fürchten. Wer desensibilisiert und kritisch ist, kann die Gefühle überhaupt nur noch „anschalten“, wenn er durch die Ereignisse auf der Bühne zufällig persönlich betroffen ist.

      • kai bremer sagt:

        Im Unterschied zu Dir meine ich schon, dass das nicht ausschließlich eine Sache ist, die in der Verfügungsgewalt des Zuschauers liegt. Ich denke eben, dass es nicht zwingend „zufällig“ sein muss, ob ein Zuschauer betroffen ist oder nicht. Die Regie hat da schon vielfältige Möglichkeiten, auf unterschiedliche Bedürfnisse und Seherfahrungen des Publikums einzugehen. Die Frage ist vielmehr: „Möchte sie das unbedingt?“ Krippendorff meint: Ja, zumindest wenn sie politisch wirken will.

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