Lange Zeit dachte ich, dass die Erforschung der Philologiegeschichte eine recht neue Sache ist. Das lag bestimmt daran, dass die wissenschaftsgeschichtliche Aufarbeitung der Germanistik eigentlich erst in den letzten 20 Jahren richtig Fahrt aufgenommen und dabei einige schlagzeilenträchtige Ergebnisse zu Tage gefördert hat. Mich interessiert Wissenschaftsgeschichte besonders, wenn sie Methodengeschichte ist. Deswegen habe ich während des Studiums beispielsweise die vier Bände Geschichtsdiskurs von Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen und Ernst Schulin gern gelesen, weil man an ihnen studieren kann, wie die Beschäftigung mit der Fachgeschichte in eigene Methodenreflexionen umschlägt. Leider sind die Bände längst vergriffen, so dass ich hier auf einen Link auf die Verlagsseite verzichte.
Als Uwe Wirth und ich vor etwa drei Jahren den Reader mit Texten zur Philologiegeschichte anfingen vorzubereiten, wurde mir wieder deutlich, wie sehr meine Wahrnehmung in disziplinären Schubladen festsitzt und wie intensiv die Philologie schon Wissenschaftsgeschichte betrieben hat, lange bevor man das so nannte. Besonders angetan war ich damals von Wilamowitz‘ Geschichte der Philologie, von der wiederum ausgegangen werden kann, um etwa die philologiegeschichtlichen Bemühungen des 19. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen.
Nun habe ich in diesen Tagen Jean Bollacks Essay über Jacob Bernays gelesen, der nicht nur deswegen faszinierend ist, weil der Autor die gleichen Initialen wie sein Gegenstand hat. Er ist sehr gut zu lesen, weil Bollack einen wunderbar lesbaren Stil pflegt, der zur Beschäftigung mit diesem dem ersten Eindruck nach fernen Gegenstand einlädt und der ihm damit auch ästhetisch gerecht wird. Guter Stil scheint mir insgesamt ein Merkmal philologiegeschichtlicher Studien zu sein, die sich mit dem 19. Jahrhundert beschäftigen. Ein anderes Beispiel dafür ist die Einleitung von Jürgen Paul Schwindt zur Neuauflage von Creuzers Das Akademische Studium des Alterthums.
Wenn man sich diese Studien durchliest, fällt neben der Stilsicherheit das historische Bewusstsein der Philologen heute und damals auf. Es geht weniger um die Rekonstruktion dessen, was war, sondern viel mehr um die Deutung. So schrieb Bernays bezeichnenderweise ein Buch über Scaliger. Wenn also die Beschäftigung mit der Fachgeschichte wahrlich nichts Neues ist, sondern offenbar schon älter, und wenn davon langfristig zahlreiche Impulse ausgehen, dann stellt sich die Frage, warum das so ist.
Bollack gibt darauf eine banale wie überzeugende Antwort: „Ein Buch ist immer die Geschichte seiner Lektüre.“ (S. 57) Wenn ich mich mit der Geschichte des eigenen Faches auseinandersetze, erfahre ich viel darüber, wie vor mir gelesen wurde und warum was wie gelesen wurde. Das ist zwar nicht weiter spektakulär, aber man macht es sich viel zu selten bewusst. Bollack führt das am Beispiel von Bernays vor, indem er die Zeitabhängigkeit von Deutungen kenntlich macht (bis hin zu einer steilen Thesen zu Schadewaldts wichtigem Aufsatz zu Furcht und Mitleid, auf die hier vielleicht ein anderes Mal eingegangen wird; vgl. bei Bollack S. 78).
Das große stilistische Bewusstsein von Autoren wie Bernays, aber auch Bollack oder Schwindt ist nun zugleich Voraussetzung dafür, dass die Beschäftigung mit dem Lesen anderer nicht nur selbstbezogen ist, sondern auch als Einladung begriffen werden kann – hier teilt jemand die eigene Freude an einem Buch, also an den Lektüren eines Dritten, seinen eigenen Lesern mit. So gesehen ist es vielleicht gar nicht überraschend, wenn ich mir gut vorstellen kann, dass in wenigen Jahren wissenschaftliche Blogs und ähnliche Formate ein bevorzugter Ort für wissenschaftsgeschichtliche Erörterungen sein dürften. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass Klartext gesprochen wird. Bollack schreibt: „Bernays überträgt das moderne Modell des aufgeklärten Herrschers auf die griechische Welt. Ihm zufolge hat Platon es in seinen sizilianischen Träumen vorweggenommen.“ (S. 82) Prägnanter kann man Bernays Darstellungsweise und die Kritik daran nicht auf den Punkt bringen. Zugleich aber macht diese Feststellung deutlich, warum es so wichtig ist, sich mit der Wissenschaftsgeschichte auseinanderzusetzen. Erst die Kritik macht es möglich, von einem Vorgänger zu lernen, ohne ihn zu verraten.
Ja – dieser Beitrag gefällt mir!
Dankedafür – FM
Gerne! Die angesprochenen Grundlagen wären ohne Dich nicht gelegt worden!
Das ist nun zweifellos erheblich zuviel der Ehre!
Aber der Mensch freut sich!
Herzlichst, Frank
Interessante Gedanken sind das, in der Tat ! Ich denke, Deine Überlegungen ergänzend, daß es bei jedem Lesen auch darum geht, als Leser selbst „historisch“ zu werden, in eine Gesellschaft der Lebenden und der Toten einzutreten, indem ich in dem Bewußtsein lese, selbst bereits, in naher oder ferner Zukunft (beides schießt bei der Lektüre jeweils zu einem Jetzt zusammen), ein Gelesener zu sein.
Da würde ich gerne noch mal nachfragen (auch wenn’s etwas zeitversetzt geschieht – entschuldige), weil ich den Gedanken, sich selbst historisch zu begreifen, sehr richtig und überzeugend finde. Aber wenn es dann um die Gesellschaft der Lebenden und der Toten geht, wird’s natürlich schon metaphysisch und ich bin mir nicht sicher, ob ich das nicht lieber erst einmal schlicht als eine Auseinandersetzung mit Diskursen o.ä. begreifen möchte. Andererseits finde ich die Frage danach, inwieweit jemand der liest und schreibt anders liest, weil er das Bewusstsein hat, dass er ein Gelesener sein kann, sehr interessant. Und diese Frage kann ich mir natürlich ohne irgendein Verständnis von Subjektivität nicht stellen. Meinst Du, dass man allein schon deswegen an der Gesellschaft der Lebenden und Toten nicht vorbeikommt?
Laut Grünbein war übrigens Müller der letzte Dichter der täglich das Gespräch mit den Toten geführt hat – sollte Dir zu denken geben 🙂
Mmhhh … Da tendiere ich entschieden zu Kais Schlichtheitsthese. Etwas anders, wenn auch gar nicht metaphysisch, aus der Perspektive des Schreibenden: Die „Gesellschaft der Lebenden“ stellt mir beständig absurde Fragen zu meinen Texten, die ich im „Jetzt“, als Teil eben jener „Gesellschaft der Lebenden“, gerade eben noch beantworten kann. „Entschuldigen Sie, aber ich dachte, Ihre Frau heißt Friederike! In Ihrem Roman sprechen Sie aber von Ulrike als Ihrer Gattin. Ist das ein Versehen?“ – Nun denn. Wenn ich dereinst in die Gesellschaft der Toten eintreten werde, dann sind meine Ich-Erzähler auf sich selbst zurückgeworfen. Komme ich vielleicht mit Fichte weiter? Oder – Gott bewahre! – mit Grünbein? Oder sollte ich in der nächsten Auflage die Frau meines Ich-Erzählers sicherheitshalber zu einer Friederike redigieren (halte ich eigentlich für eine gute Idee) – mit Rücksicht auf jene philosophisch-metaphysisch armselig sprachlosen Erzähler?
Nachdenklich grüßt alle Gelesenen, Lesenden usw.
FM
PS: Oder war das jetzt zu schlicht?