Sisyphos-Müller

Vor knapp einem Jahr hat Kristin Schulz eine beeindruckende Sammlung von vier Mp-3-CDs mit 36 Stunden O-Ton von Heiner Müller im Alexander Verlag veröffentlicht. Diese Sammlung ist in den folgenden Monaten mehrfach rezensiert worden – teilweise sogar sehr bald nach dem Erscheinen, so dass ich mich immer wieder gefragt habe, wer die CDs wirklich durchgehört hat; ob also die Kritiker wirklich in der Lage waren, sich ein zuverlässiges Urteil zu bilden.

Letzte Woche habe ich die letzten Tracks gehört – allerdings möchte ich gleich eingestehen, dass ich immer wieder einmal beherzt zum nächsten Track gesprungen bin, wenn mich der aktuelle gelangweilt hat oder er schlicht zu schwer zu verstehen war (die Qualität der frühen Aufnahmen entspricht nicht immer gegenwärtigen Standards). Dazu kommt noch, dass Tracks teilweise sehr umfangreiche Lesungen Müllers von anderen Autoren (Benjamin, Brecht, Kafka) bieten. Das ist vielleicht für den interessant, der gerade eine Studie zu Müllers Rezeption von X oder Y schreibt – aber warum sollte man sich das sonst anhören? Auch wiederholen sich seine Pointen und Analysen auf die Dauer. So kommt denn beim Hören immer mehr der Eindruck auf, dass die Tondokumente zwar auf jeden Fall durch das Heiner-Müller-Archiv hätten zugänglich gemacht werden müssen, aber warum sie auf dem freien Buchmarkt angeboten werden müssen, das leuchtete mir, je länger ich zuhörte, immer weniger ein, obwohl ich nun wirklich die für ein solches Vorhaben notwendige Begeisterung für Müller mitbringe.

Als ich dann aber die letzte CD einlegte, kam auf einmal die große Überraschung. Da ich längst schon nicht mehr in dem hilfreichen Buch zu den CDs nachlas, was mich erwartet, war ich sehr erstaunt, als auf einmal neben der Stimme Müllers eine zweite zu hören war. Die CD macht auf mit einer Brecht-Lesung von Ekkehard Schall und Müller, in der sich Schalls zerbrechlicher Moritat-Gesang und Müllers trockener, emotionsfreier Leseduktus abwechseln, was sehr reizvoll wirkt. Im Anschluss an diese Lesung folgt eine Diskussion, an der u.a. auch der jüngst verstorbene Friedrich Kittler teilnimmt. Es schließen sich kurze Gedicht-Lesungen an, die Müller nach seiner Speiseröhren-OP im Rahmen eines Fernsehgesprächs mit Alexander Kluge gehalten hat. Schließlich sind auch seine letzten öffentlichen Äußerungen wie etwa die Büchner-Laudatio auf Durs Grünbein zu hören.

Diese letzte CD wird damit – vermutlich ungewollt und nur wegen der chronologischen Anordnung der Dokumente – zu einem mehrere Stunden dauernden memento mori. Das geht deswegen so sehr unter die Haut, weil Müller sich nicht mehr mit Zynismus und Sarkasmus panzert. Wenn er im Gedicht über sein Spätwerk nachdenkt, dann geschieht das offensichtlich im Bewusstsein, eine großes (wenngleich auch kein umfangreiches) Werk hinterlassen zu haben. Zugleich stellt er sich aber nicht nur seinem Tod. Er kehrt zu seinen Anfängen zurück, indem er noch einmal betont, dass seines Erachtens nach politisch alles auf die Frage „Selektion oder Revolution?“ hinausläuft. Wie früh er diese Frage schon gestellt hat, wird erst beim Hören dieser CDs wirklich deutlich – und das macht klar, wie sehr Müllers Werk dem des Sisyphos ähnelt. Glücklicherweise scheint er darunter nicht so sehr gelitten zu haben wie sein berühmter Ahnherr.

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