Nicht erst seit Celans Von Schwelle zu Schwelle (1955) ist die Frage nach der Grenze bzw. ihrem Überschreiten und Übersteigen eine, die die Lyrik beschäftigt. Versucht doch letztlich wohl jedes Gedicht, Schwellen zu überwinden – allein schon in dem Sinne, dass sich von Vers zu Vers wieder die Frage stellt, wie der Übergang zwischen ihnen angegangen wird.
In diesem Sinne ist es nicht weiter überraschend, wenn sich eine Zeitschrift Limen nennt, die sich zeitgenössischer Literatur, Lyrik vor allem (von „Dichtung“ spricht der Untertitel) widmet und auf die auch schon der Deutschlandfunk und Litlog aufmerksam geworden sind. In poetologischer Hinsicht ist der Name der Zeitschrift also naheliegend. Doch Limen will damit mehr sagen. In der Zeitschrift werden nämlich Sprachschwellen fokussiert. Die Zeitschrift publiziert deutschsprachige und ausländische Lyrik – und zwar sowohl im Original als auch in Übersetzung. Außerdem werden diese Sprachschwellen hörbar gemacht, indem dem Heft eine CD mit allen Gedichten beiliegt.
Doch noch in einer dritten Hinsicht geht es um die Auseinandersetzung mit einer Schwelle. Zumindest das jetzt erschienene erste Heft stellt sich der Frage nach der Referenz – es überschreitet damit eine Schwelle, die nicht selbstverständlich ist: die Schwelle zwischen Gedicht und Verstehen. Um an dieser Schwelle nicht zu stolpern, haben die beiden Herausgeber Kristin Bischof und Massimo Pizzingrilli die beteiligten Schriftsteller um Statements gebeten – eine kluge Entscheidung, zumal der Verzicht auf (Selbst-)Kommentare für die Leser gewiss eine noch größere Herausforderung gebildet hätte, als es das eh schon anspruchsvolle Heft tut.
Eröffnet wird das Heft mit drei Gedichten von Mara Genschel. Sie setzen sich intensiv mit dem Verhältnis von Laut und Schrift auseinander und bilden einen eigenen Kunstraum, der am Rande auf ganz alltägliche Situationen referiert. So scheint das Ich im zweiten Gedicht vor einem Schild, das vor einem Hund warnt, zu stehen und Ausschau zu halten, ob ein Hund („Hunt“) da ist. Doch obwohl „kein Hunt“ (so sechsmal) das naive, eingeschüchterte (kindliche?) Ich bedroht, tritt es nicht ein, sondern verharrt vor dem „schwarz/ auf weißem Grund“.
Angesichts ihres Interesses am artifiziellen Ausdruck verwundert es nicht weiter, dass sich Genschel in ihrem Statement der Frage nach Dichtung und Politik nicht im Sinne einer Erörterung stellt, sondern derart, dass sie fragt, ob und wie diese Systeme zueinander passen.
Angesichts dieses beeindruckenden Auftakts wird man natürlich neugierig. Insgesamt können die ausgewählten Autoren und Gedichte sehr überzeugen. Teilweise wäre es freilich ganz hilfreich gewesen, wenn die Einführungen noch konkreter auf die ausgewählten Gedichte Bezug genommen und nicht nur generell die Autoren vorgestellt hätten. So wird zum Beispiel Sebastian Himstedt als sehr klanglich orientierter Lyriker präsentiert (vgl. S. 18), doch gilt das für die hier abgedruckten Gedichte nicht so sehr. Selbstredend ist ihnen eine Klanglichkeit eigen, die das Maß der Umgangssprache weit übersteigt. Doch gerade im Vergleich mit vielen anderen Gedichten des Bandes wirken seine drei vergleichsweise prosaisch, ja alltäglich. Diesen Eindruck bestätigt auch sein kurzer Beitrag zum Verhältnis von Politik und Lyrik.
Die Stärke dieser Debutausgabe von Limen liegt aber gerade darin, dass sie nicht in eine Richtung zielt, sondern facettenreich angelegt ist. Während Himstedt Politisches in der Lyrik für möglich hält, bezweifelt im Anschluss an ihn André Schinkel eben dies, obwohl seine Lyrik, wie das Vorwort überzeugend deutlich macht, mit Ringelnatz und Biermann zwei Vorbilder kennt, die sich auf die Realität vergleichsweise konkret bezogen haben und keinen lyrischen ‚Gegenraum‘ zu dieser aufmachen. Das ist bei den beiden, eigens für das Heft verfassten Gedichten von Uljana Wolf, die u.a. geschickt mit der Differenz zwischen Umgangssprache und Schriftsprache spielen und so das Artifizielle des Alltags bloßlegen, wiederum anders. In ihrem ebenfalls lyrischen Statement fragt sie nach dem Statischen des Staates und zeigt so, wie sehr das, was sich notwendig als fest und stabil begreift, in permanenter Bewegung und Auslegung ist.
Auf die deutschsprachigen Autoren folgen die französischen und schließlich die italienischen. Eröffnet wird der zweite Teil mit Gedichten des vermutlich prominetesten Lyrikers in diesem Heft. Philippe Beck, der auch in deutscher Übersetzung vorliegt (und breit wahrgenommen wird), wird hier mit einigen Variationen seiner Boustrophes vorgestellt, die in den nächsten Wochen bei Matthes & Seitz in deutscher Übersetzung von Tim Trzaskalik erscheinen. In Becks Statement bekennt er sich in Derridascher Tradition zur durch Lyrik provozierten Sprachskepsis, die an sich politisch sei. Dieser Ansatz wird von dem folgenden Prosatext sowie das Statement zur Bedeutung des Geldes von Christophe Tarkos noch radikalisiert. Der dritte französische Schriftsteller ist Pierre Vinclair, auf dessen blog ich hier einfach hinweise.
Die Reihe der italienischen Lyriker eröffnet Massimo Baldi. Seine Lesung erscheint, zumal angesichts der Verspieltheit der deutschen Schriftsteller eigentümlich pathetisch. Und so ruft das Heft, je länger man in ihm liest (nach Baldi kommen noch Lorenzo Boccafogli, Maria Grazia Calandrone und schließlich Evelina De Signoribus zu Wort) auch dem Ton nach in Erinnerung, dass sein Gegenstand zwar spielerisch leicht sein kann, keineswegs aber nur Spiel ist, sondern ein wunderbar vielfältiges Panoptikum europäischer Dicht- und also Laut- und Wortkunst.