Wie sehr es sich lohnt, ein gutes Buch nicht nur einmal zu lesen, wird oft betont. Das ist natürlich nicht nur bei Büchern so, sondern auch bei Filmen, Serien, Theateraufführungen sowie bei besonderen Ereignissen. Als ich vor einigen Monaten angefangen habe, The Wire erneut zu schauen, ist mir erst aufgefallen, wie sehr die ganze Serie von Beginn an durchkomponiert ist und wie sehr schon zu Beginn Handlungsfäden und Motive angelegt sind, die erst viel später, teilweise sogar in späteren Staffeln wieder aufgeommen werden. Dass mir das jetzt klar wurde, lag daran, dass ich nun schon wusste, wie die Handlung verläuft, und mich darauf wohl nicht mehr so konzentriert habe, sondern meine Aufmerksamkeit mehr auf Details richten konnte.
Ähnlich verhält es sich, wenn man an einen Ort kommt, den man schon kennt und an den man bemerkenswerte Erinnerungen hat. Das können Sehenswürdigkeiten oder Naturschauspiele sein. Vor allem aber gilt das, so mein Eindruck, für Orte, die für den Besuch konzipiert sind – wie Museen oder Galerien, vielleicht auch öffentliche Plätze und Parks. Dorthin geht man auch beim zweiten oder dritten Mal sehr gern, weil man immer wieder Neues zu entdecken hofft. Mein Lieblingsmuseum ist das Berliner Naturkunde-Museum, dessen Weiterentwicklung ich seit vielen Jahren verfolge und das ich immer besuche, wenn sich dazu irgendwie die Gelegenheit bietet.
Anders verhält es sich, so mein Eindruck, wenn man seine eigenen Bücher, Aufsätze oder Kritiken nach einer Weile wieder in die Hand nimmt. In den meisten Fällen scheint es mir so zu sein, dass man mit dem, was man früher mal geschrieben hat, sehr unzufrieden ist. Das kennt jeder, der im Keller schon mal alte Schulhefte aus der Abi-Zeit oder die ersten Arbeiten aus dem Studium in die Hand genommen hat. Hefte und Mappen aus der Grunschulzeit sind noch niedlich. Für Ergüsse, die man als Erwachsener verbrochen hat, fühlt man sich hingegen zeitlebens verantwortlich, auch wenn das Verbrechen vielleicht längst verjährt ist.
Hinzu tritt noch eine zweite Erfahrung – nämlich die, dass man nicht nur die eigenen Gedanken banal und schlecht formuliert findet, so dass man sich dafür schämt, sondern dass zudem die Erinnerung an die Ereignisse um den Text herum wieder aufkommen.
Gestern habe ich einen Vortrag wieder gelesen, den ich vor sehr langer Zeit auf einer Tagung gehalten habe. Ich suchte darin nach einigen Informationen, von denen ich wusste, dass ich sie seinerzeit im Manuskript notiert hatte. Interessanterweise konnte ich mich zunächst gar nicht auf den Aufsatz selbst konzentrieren Als ich ihn auf dem Bildschirm aufrief, fiel mir erst einmal ein sehr unangenehmer Moment ein: ein Frühstück an einem Morgen der Tagung im Hotel „Stadt Hannover“ in Göttingen (an sich eine schöne Erinnerung, da es keins dieser sterilen Tagungshotels ist). Ich setzte mich an den Tisch eines französischen Kollegen. Zu meiner Überraschung sprach er weder Deutsch noch Englisch (auf der Tagung war am ersten Tag nur auf Deutsch und Englisch vorgetragen worden) und seine Bereitschaft, sich auf mein radebrechendes Minimal-Französisch einzulassen, bewegte sich an der Grenze zur Unhöflichkeit.
Das fiel mir also wieder ein, als ich den Aufsatz in einem seit Ewigkeiten nicht mehr geöffneten Ordner aufrief und noch bevor ich mich in dem Text auf die Suche nach der Information machte. Deswegen war ich dann beim Durchblättern auch erst einmal etwas unkonzentriert. Immer wieder tauchten Erinnerungen an die Tagung auf. Nur langsam begann ich zu lesen, und allmählich machte sich Überraschung breit über das, was ich da las.
An viele Details konnte ich mich gar nicht mehr recht erinnern. Es ging mir also ganz anders als beim Wiedersehen von The Wire. Meine eigenen Gedanken waren mir vielleicht nicht unbekannt, überrascht war ich über das, was da stand, nicht. Aber alles schien mir gewissermaßen abgelegt. Ganz so, als habe mein Gehirn sich gesagt, dass es sich das nicht alles merken muss, da das ja alles schon aufgeschrieben ist und also gut wiedergefunden werden kann. Die übliche Scham-Erfahrung setzte nicht ein, sondern vielmehr die Freude darüber, dass das damals Geschriebene gar nicht so dumm war, wie ich zunächst befürchtet hatte.
Die Frage, die ich mir nun seit gestern stelle, ist, ob der Aufsatz einfach eine glückliche Ausnahme von der Regel ist, dass man die eigenen Texte später für ziemlich belanglos hält. Vielleicht war ich schlicht milde mit mir gestimmt, weil ich mich daran erinnerte, wie tapfer ich das unangenehme Frühstück vor dem Vortrag überstanden hatte?
Vielleicht aber ist der Aufsatz auch gar keine Ausnahme und ich meine alten Texte einfach mal wieder lesen. Vielleicht mache ich dann ähnlich gute Erfahrungen wie im Frühjahr, als ich The Wire erneut gesehen habe.
Vielleicht aber richte ich mich auch bequem in meiner Erinnerung an diesen einen Morgen ein, als ich diesen einen Aufsatz wieder gelesen habe, und verkläre ihn zu einem wunderschönen Morgen, den Morgen einer kleinen Entdeckung.
Lieber Kai,
ich habe mich sehr gefreut, deinen Blogbeitrag zu lesen, denn mir geht es ganz ähnlich. Auch ich schaue The Wire gerade ein zweites Mal und ich bin auch völlig fasziniert, wie viel schon zu Beginn der Serie angelegt ist und wie viel Neues man auch beim zweiten Mal entdeckt. Bei Gelegenheit müssen wir uns unbedingt mal bei einem Bier darüber unterhalten. Also falls du mal in Erfurt oder Eisenach bist… Bis dahin viele liebe Grüße
Michi
PS: Vielen Dank auch noch für deine nette Antwort auf meine LZG-Abschiedsmail!
Lieber Michi, freut mich, dass Du offenbar denselben Eindruck hattest. Ist aber eben auch eine verdammt gute Serie. Dir/Euch alles Gute da. Freue mich sehr aufs Wiedersehen, wann immer das auch sein wird!