Der Flaneur von Montmartre

Jeder Paris-Besucher kennt den Blick über die Stadt – vom Eifelturm aus, von Notre Dame oder vom Centre Pompidou, egal. Deswegen kennt jeder Paris-Besucher Sacré-Cœur, auch wenn er es gar nicht dorthin schafft. Stolz thront die (nicht eben anmutige) Basilika auf Montmartre.

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Wenn man vom Zentrum dorthin blickt, scheint die Stadt Sacré-Cœur zu Füßen zu liegen. Nur der Wasserturm ein paar Meter nordwestlich davon macht der Basilika ihre herausragende Stellung keck ein wenig streitig.

Man bekommt heute gar nicht mehr eine Ahnung davon, dass Montmartre vor rund hundert Jahren, als sich der Ruf des Hügels als Künstlerviertel bildete, noch nicht dermaßen eng an den Rest der Stadt angeschlossen war, sondern dass dazwischen noch Obstgärten lagen und zahlreiche Mühlen rund um die Basilika standen und eine Grenze bildeten.

Um nach Sacré-Cœur zu gelangen, gibt es viele Möglichkeiten. Nähert man sich der Hügelspitze zu Fuß (etwa indem man mit der U-Bahn bis zur Station Abbesses oder Lamarck gefahren ist) oder mit dem Auto (indem man die steilen Kopfsteinpflasterstraßen hinauftuckert), stellt sich ein eigentümlicher Eindruck ein. IMG_3911IMG_3912Paris ist in den Straßen unterhalb von Montmartre wunderschön. In den südlich davon liegenden Straßen und Treppen, etwa denen, die zur Rue des Abbesses vom Hügel herabführen, meint man permanent, in eine Filmkulisse versetzt zu sein. Alles ist sehr lebendig. Die Dichte der Händler, die Dich gleich auf Englisch ansprechen, lässt rasch ahnen, wie touristisch alles ist. Gleichwohl darfst Du Dich dem romantischen Gefühl hingeben, Teil von Paris zu sein. IMG_3926IMG_3925In den nördlichen von Montmartre liegenden Straßen rund um die Rue Lamarck darfst Du Dich ebenfalls diesem Gefühl hingeben. Aber die Leute, die hier in den Cafés sitzen, beim Marokkaner Lamm und Minze kaufen oder beim Bio-Händler Käse, machen Dir schnell klar, dass hier deutlich mehr Menschen wohnen, die nicht von den Touristen leben. Aber unabhängig davon, welche Ecke Dir besser gefällt. In beiden lässt es sich wunderbar aushalten.

Es gibt aber noch eine dritte Möglichkeit, um auf die Spitze von Montmartre zu gelangen – nämlich die, sich am Fuß des Berges in den Funiculaire zu zwängen, statt die Treppen zu gehen. Sie wählt der Flaneur von Montmartre.

Er lebt hier rund um Sacré-Cœur und bewegt sich auf Montmartre in eigentümlich unsichtbaren Grenzen. Wenn Du durch die steilen, schönen Straßen gehst oder fährst und Dich allmählich der Spitze näherst, etwa wenn Du in die Rue Norvins biegst, durchbrichst Du diese Grenze unvermittelt. Auf einmal tummeln sich ungeheure Menschenmassen in beängstigender Langsamkeit über das Kopfsteinpflaster. Es ist, als ob der genius loci den Menschen einflüstert: „Du bist jetzt der Flaneur von Montmartre, Du interessierst Dich jetzt für Kunst.“

Den Flaneur von Montmartre erkennst Du an drei Dingen:
1. an der Crêpe mit Nutella, die ihm immer wieder aus der Hand wächst – quasi eine süße Schrumpfform der Medusa,
2. an dem verklärten Kennerblick, mit dem er vor den laminierten Reproduktionen verharrt, und
3. an dem irritierten Blick, wenn die mit Baskenmütze ausstaffierten Porträtzeichner und Karikaturisten andeuten, dass sie für das ‚Selfie mit Künstler am Montmartre‘ zumindest ein, zwei Euro haben wollen.

Dem Flaneur von Montmartre ist eigen, dass er einen wahnsinnig eingeschränkten Bewegungsradius hat. Dieser Umstand ist auf jeden Fall für die unsichtbaren Grenzen verantwortlich. Mir ist nicht klar, ob ihn der Aufstieg zum Hügel schon derart gefordert hat, dass er es im Normalfall nicht schafft, den Hügel auf der anderen Seite auch nur noch 20 Meter hinabzugehen. Vielleicht hat er auch Angst, dass hinter der nächsten Straßenecke marodierende Jugendliche aus der Banlieue warten, um ihn abzuziehen. Egal. Der Flaneur von Montmartre kennt die Grenze und vollführt seinen langsamen Reien immer wieder auf denselben zwei, drei Straßen und auf dem Vorplatz von Sacré-Cœur.

Nun wäre natürlich auch der kleine Philologe gern ein Flaneur von Montmartre. Aber ihm fehlte letztlich das Feingefühl für die Grenzen, die dieser sieht und wahrt. Immer wieder verschlug es den kleinen Philologen in kleinere Straßen ohne Crêpe und Reproduktionen – und schon war’s einsam. Wie traurig.

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