Nora Gomringer: Morbus

In memoriam Frank Möbus

In meinem Bücherregal ist der Buchstabe ‚G‘ besonders spannend. Ich habe schon länger den Eindruck, dass die Nachbarschaften, die ich hier regelmäßig bestaune, kein Zufall sind. George neben Gernhardt, das ist nicht frei von Ironie. Im Zentrum von ‚G‘ die Reihe meiner vier G-Olympier: Goethe, Goetz, Goldt, Gomringer. Aus der Ferne blinzelt Grünbein und wäre auch gern dabei, aber an den kraftstrotzenden Grass und Grimmelshausen kommt er natürlich nicht vorbei. Aber selbst die bilden keine direkte Allianz (auch wenn sie das im Geiste natürlich tun): Grillparzer, der kleine Frechdachs, hat sich heimlich dazwischen geschummelt.

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(c) Marco Rasch/LZG Gießen

Allein schon angesichts dieser Konstellation könnt ihr euch denken, dass ich es als großes Glück empfand, Anfang des Jahres eine Lesung von Nora Gomringer moderieren zu dürfen. Zur Vorbereitung habe ich natürlich ihren neuen Gedichtband Morbus gelesen. Wie sein Vorgänger Monster Poems sind in dem Buch wieder 25 thematisch zusammenhängende Gedichte versammelt (ergänzt werden beide bald noch um einen dritten Band mit 50 Gedichten zur Mode). Wie bei den meisten Büchern von Nora Gomringer üblich, liegt wieder eine CD bei, auf der eine Lesung ihrer Gedichte zu hören ist. Außerdem ist das Buch wie schon Monster Poems wunderbar vom Graphiker Reimar Limmer gestaltet. Ein richtiges kleines, feines Gesamtkunstwerk, das sogar noch denen zu empfehlen ist, die Nora Gomringer schon live erlebt haben.

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(c) Marco Rasch/LZG Gießen

Der Abend war ein voller Erfolg und hat sehr viel Spaß gemacht. Im Anschluss sind mir noch einige Gedanken zu der Lesung durch den Kopf gegangen, die vielleicht des Aufschreibens wert sind.

Bei der Lektüre von Morbus wurde mir klar, wie immer vielfältiger und auf angenehme Weise artifizieller Noras Gedichte werden. In Kritiken und in Gesprächen über sie wird gerne ihre Nähe zum Poetry Slam betont. Ihre großartig performten Auftritte (gerne auch zusammen mit anderen starken Live-Künstlern wie dem Wortartensemble) und die den Gedichten beiliegenden CDs scheinen das zu bestätigen. Da einige ihrer Gedichte zudem, obwohl in Summe vielmehr von feiner Ironie durchzogen, immer mal auch vor einer fetten Pointe nicht zurückschrecken, scheint der Hinweis auf die Slam-Tradition zu überzeugen.

Aber man muss sich nur Gomringers Lesung beim Gewinn des Bachmann-Preises ansehen, um zu wissen, dass sie auch ganz anders kann. Da begegnet uns eine konzentrierte, die eigene Sprache und das eigene Sprechen herausragend beherrschende Dichterin, die zugleich mit ihrer Kunst die Welt außerhalb ihrer Literatur reflektiert und ihren Facettenreichtum hörbar macht.

Was mich bei ihren Gedichten schon früh interessiert hat, ist ihre Auseinandersetzung mit dem Holocaust (z.B. „Und es war ein Tag. Und der Tag neigte sich“). Gomringer macht das nicht nur, indem sie die Erinnerung an den Holocaust mittels ihrer Lyrik immer wieder wachhält, sondern auch indem in ihren Gedichten immer wieder die Lyrik etwa einer Nelly Sachs oder Rose Ausländer nachklingt – ein Singbarer Rest gewissermaßen. Diese sprachliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust findet sich in Morbus wieder, in dem Gedicht über Typhus (Die Mädchen in Bergen-Belsen), das sich den Schwestern Anne und Margot Frank widmet („lange verborgen unter den Sternen, / mit wenig mehr als einer Stimme bedeckt.“).

Die große Kunst dieses Buches ist freilich, dass es gleichwohl kein trauriges Buch ist, wie man anhand dieses Beispiels und des Titels vermuten mag. Vielmehr ist es gerade angesichts der Nachdenklichkeit eine Verneigung vor dem Leben, ohne das es schließlich keine Krankheiten gäbe. So sind dann andere Gedichte putzmunter. In Herpeswaltz etwa hüpfen erst kleine Daktylen herum („Ich küss dich / Du küsst mich“), bis es anfängt zu jucken und der walzerhafte Takt jäh erstaunt (und metrisch kaum mehr eindeutig bestimmbar) abbricht: „Was tun wir jetzt“ – heißt es, eine Frage ohne Fragezeichen. Ratlosigkeit. Am Ende findet das Gedicht seinen Takt wieder, aber die Konstellation hat sich verändert: Die Tanz geht weiter, aber nicht mehr mit demselben Partner: „Aus mit uns“.
Dass ich mich angesichts solcher Verse von Nora zum nächsten Tanz auffordern lasse, wenn Mode erscheint, ist jetzt schon klar.

 

 

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One Response to Nora Gomringer: Morbus

  1. […] Kai Bremer: Nora Gomringer: Morbus philology & irony, 6.2.2016 […]

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