Eigentlich steht bei meiner Rundreise durch die Berliner Bühnenlandschaft das heutige Konzerthaus am Gendarmenmarkt auf dem Programm. Aber da die Debatte um die Neuausrichtung der Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz weiterhin virulent ist, dachte ich mir, dass ich meinen Beitrag dazu vorziehen sollte. Beginnen wir vielleicht mit einem alternativen Blick. Ich hatte letztens das Glück, den amerikanischen Lyriker Donald Berger folgendes Gedicht lesen zu hören:
People’s Stage
I love how you looked on that day.
I didn’t know you and still
Don’t know you,
The day of the walking X’s, no, the walking wheels.I have to be home before two.
I let in a miniature face.
The shadow under the S-Bahn bridge is cold.
The man-sized graffiti almost a comfort.Take those thoughts of a hand the fireflower put it
Over the window that reads, in English,
The Unknown Friends.(Donald Berger: The Long Time. Die währende Zeit. Poems/Gedichte. Aus d. Englischen v. Christoph König. Göttingen 2015, S. 10).
Als ich schon vor längerer Zeit die Volksbühne nachgebaut habe, hing mir – wie so vielen – noch der Tod von Bert Neumann nach. Ich wollte deswegen auf jeden Fall auch das große ‚OST‘ auf dem Dach der Volksbühne realisieren, was bei Lego ja nicht so leicht ist, weil Lego insgesamt kein Freund von Biegungen, sondern von Ecken und Kanten ist. Dementsprechend war aber der Rest der Volksbühne verhältnismäßig gut zu realisieren.
Was ich damals hingegen nicht nachgebaut habe, war das ‚Räuber-Rad‘ oder auch ‚laufende Rad‘ aus Castorfs Räuber-Inszenierung (die ich leider nie gesehen habe). Dass ich’s nicht gebaut habe, war auch dem Umstand geschuldet, dass das Rad auf dem Vorplatz steht. Bergers Gedicht aber hat mich daran erinnert, wie sehr das Rad den Besuchern der Volksbühne schon früh signalisiert, dass sie jetzt einen besonderen Raum betreten – einen Raum, in dem andere, nicht-bürgerliche Ordnungen und die ganze Energie des Sturm und Drang herrscht.
Dieser Raum, den die Volksbühne bis heute besetzt, symbolisiert ideal, was sich seinerzeit schon Ivan Nagel und seine Mitstreiter von dem Haus erhofften, als sie das bis heute wirkungsmächtige „Gutachten“ (das ja eher ein Masterplan für die Berliner Theaterlandschaft war) vorlegten:
Das hässlichste große Theater Berlins ist (ebenfalls deshalb) am besten geeignet, um ein junges Theater zu gründen: mit ästhetischer Innovationslust, politischer Schärfe wie (und sicher ganz anders als) die einstige Schaubühne am Halleschen Ufer. In diesem Haus, mit der U-Bahn vor den Pforten, zwischen Prenzlauer Berg und Kreuzberg gelegen, den Platz mit dem Programmkino Babylon teilend, dem Liebknecht-Haus brisant benachbart, aus Art déco- und SED-Bau mit kostbar scheußlichem Material zusammengesetzt, ließe sich etwas bewegen. Das Haus ist nicht nur auf der Hauptbühne, sondern in drei Foyers und einer Studio-Bühne bespielbar: in seiner besten Nachkriegs-Zeit haben das Benno Besson, Manfred Karge/Matthias Langhoff, Heiner Müller vorgeführt – in Ostberlin unvergessen.
(Ivan Nagel: Streitschriften. Politik, Kulturpolitik, Theaterpolitik. Berlin 2001, S. 133).
Verteidiger der aktuellen Entscheidung zur Neuausrichtung der Volksbühne erinnern gerne daran, dass auch das Gutachten von 1991 für viel Widerstand gesorgt hat. Das ist zweifellos richtig. Nur artikulierte sich der damals vor allem, weil die Westberliner Theaterlandschaft beschnitten wurde. Die Entscheidung, Castorf die Volksbühen zu überantworten, wurde zwar nicht immer begrüßt, aber im Zentrum der Debatte stand diese Entscheidung nicht.
Dieser Blick zurück auf das Gutachten von Nagel führt vor, dass die Vorschläge damals auf der Basis von verschiedenen klar benennbaren Kriterien formuliert wurden: die neue Leitung sollte ein historisches Bewusstsein für den genius loci haben, ästhetisch innovativ, politisch ’scharf‘ sowie ‚jung‘ sein, was sich sowohl auf die Belgeschaft als auch das Publikum beziehen dürfte. Die künstlerische Spannung ergab sich also allein schon aus diesen Voraussetzungen: aus der ästhetischen Auseinandersetzung mit der Geschichte und dem Ziel, dafür mit ‚anderen‘ Mitteln ein ‚anderes‘ Publikum zu gewinnen.
In Berlin wurde knapp ein Jahrzehnt später, mit dem Wechsel der künstlerischen Leitung an der Schaubühne, erneut versucht, eine solche Grundspannung zu erzeugen. Auch die Besetzung der aktuellen Intendanz am Gorki, mit Shermin Langhoff seit 2013, war von einer solchen Innovationslust gekennzeichnet. Die aktuellen Entscheidungen in Berlin hingegen orientieren sich ganz augenscheinlich an einer ganz anderen Größe, nämlich am vermeintlichen Publikumsgeschmack. Das hat dazu geführt, dass auf einmal eine Riege älterer und alter Männer zusammen mit Sasha Waltz die Leitung aller demnächst vakanten Häuser überantwortet wird – in der Hoffnung, dass die das schon richten werden, weil sie’s bisher ja auch nicht schlecht gemacht haben.
Dass das bei der Volksbühne besonders viel Widerstand ausgelöst hat – und das sollte man sich in aller Deutlichkeit klar machen –, ist nicht nur dem Umstand zu verdanken, dass Castorf in den letzten 25 Jahren ein ganz einzigartiges Theater mit ganz speziellen Publikumsbindungen geschaffen hat. Es ist auch dem Umstand geschuldet, ästhetische Fragen nicht nur aktuell-diskursiv, sondern auch historisch zu reflektieren und so Ausdrucksformen Raum zu geben, die beispielsweise Nagel sicherlich fern standen. Offenbar ästhetisch wie politisch großzügig hat er gleichwohl ein Theater ermöglicht, das inzwischen ein Viertjahrhundert der Theatergeschichte Berlins geprägt hat. Man kann sich nur wünschen, dass mit dem heutigen Tag eine solche Hellsichtigkeit wieder in die Kulturpolitik Berlins einkehrt.