Unendlichkeit

Kommentierung kommt niemals zu einem Ende. In den Welten des interpretatorischen und kritischen Diskurses zeugt […] ein Buch das andere, bringt ein Essay den anderen hervor, setzt ein Artikel den anderen in die Welt. Die Mechanik der Unaufhörlichkeit ist die der Schwärme der Wanderheuschrecke. Monographie zehrt von Monographie, Vision von Revision.

George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Übers. v. Jörg Trobitius. München, Wien 1990, S. 60.

Steiners hier geäußerte Verachtung des Sekundären, der mitgeteilten Exegese und der daraus resultierenden Unendlichkeit hat mich lange und nachhaltig beschäftigt. Hat er nicht recht, schon allein ganz quantitativ? Führt nicht jede Lektüre von Forschungsliteratur oder Kommentaren unweigerlich dazu, dass für die wichtigen, großen, vielleicht gar wahren Texte weniger Zeit bleibt? Und führt das nicht zugleich dazu, dass weniger Zeit zur eigenen Urteilsbildung bleibt?

Ein anderer großer Leser, Alberto Manguel, sieht das deutlich entspannter, indem er auf das historische Bewusstsein der Kommentatoren schon seit dem Spätmittelalter hinweist:

Die humanistischen Gelehrten des ausgehenden Mittelalters bereiteten dann der Erkenntnis den Boden, dass der Text (auch Platons Dialoge über die Thesen des Sokrates) und alle nachfolgenden Kommentare wechselnder Lesegenerationen nicht nur eine einzige Deutung, sondern eine nicht endende Kette von Deutungen ermöglichte.

Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens. Übers. v. Chris Hirte. Frankfurt/M. 2008, S. 168.

Beide Positionen eint die Einsicht in die Unendlichkeit des Lektürevorgangs und die daraus resultierende Verbunden- und letztlich auch Vernetztheit von Texten. Sie beschreiben also Dynamiken, die für die Intertextualitätstheorie fundamental wurden. Gerade aber der Blick auf die zeitlichen Dimensionen führt zugleich auch vor, wie sehr Steiners Unterscheidung von Primärem und Sekundärem nicht mehr als ein individuelles Geschmacksurteil ist.

Jüngst las ich ein Gedicht von B.K. Tragelehn:

BEIM WIEDERLESEN DER BUCKOWER ELEGIEN

Dunkel steigt auf, schwarz steht Geäst

Vorm helleren Himmel, dann wird auch

Der schwarz und Sterne winken weit her

Nacht hat uns eingefangen und für lange.

 

Brecht las bei Horaz, les ich, daß selbst

Die Sintflut nicht ewig gedauert hat.

Und wieder werden die schwarzen Gewässer verrinnen.

Und wieder werden wenige länger dauern.

(1990)

B.K. Tragelehn: NÖSPL. Gedichte 1956-1991. Frankfurt/M. 1996, S. 143.

Tragelehn setzt sich mit seinem Gedicht explizit mit Brechts letztem Gedicht der Buckower Elegien auseinander:

BEIM LESEN DES HORAZ

Selbst die Sintflut

Dauerte nicht ewig.

Einmal verrannen

Die schwarzen Gewässer.

Freilich, wie wenige

Dauerten länger!

Bertolt Brecht: Die Gedichte. Hg. von Jan Knopf. Frankfurt/M. 2000, S. 300.

Indem das „Ich“ in Tragelehns Gedicht Brechts Horaz-Lektüre (erneut?) liest, beginnt es, über Wiederholungen von Ereignissen, von Zeit also, nachzudenken. Tragelehns Gedicht ist damit eins, das nicht nur selbst die Unendlichkeit der Lektüre in Szene setzt und also Steiners Unterscheidung in Primäres und Sekundäres dekonstruiert. Zugleich führt Tragelehns Gedicht vor, wie durch die Reflexion über die verschiedenen Lektüren der Diskurs nicht nur fortgesetzt, sondern vor allem immer facettenreicher wird.

Das zeigt ergänzend ein Gedicht, das Tragelehn hier nicht nennt, an das er aber vielleicht dachte, als er sein metapoetisches Gedicht schrieb. Es ist von Heiner Müller:

GESPRÄCH MIT HORAZ

Silbenzähler beiläufig dein Vers unterm Schritt der Kohorten

Die Kohorten wo sind sie Mein Vers geht ins zweite Jahrtausend

Heiner Müller: Warten auf der Gegenschräge. Gesammelte Gedichte. Hg. von Kristin Schulz. Berlin 2014, S. 17.

Müllers Horaz-Lektüre ist keine, die über das Vergehen der ‚Sintflut‘ nachdenkt, sondern eine, die gewissermaßen gegen die Sintflut darauf vertraut, dass die Verse bleiben. Hoffnung im Fatalismus gewissermaßen. Ergänzend führt Tragelehns Gedicht vor, dass diese Hoffnung eine Voraussetzung hat: Lektüre und die potentielle Unendlichkeit der produktiven Rezeption.

 

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