Ende Oktober hat Felix P. Ingold in der NZZ weiten Teilen der Gegenwartsliteratur vorgeworfen, dass sie nur für den Moment schreibe. Ulrich Blumenbach hat dem zwar nicht widersproch, aber versucht, dieses Ansinnen zu verstehen. Ich denke aber, dass Ingolds Impuls grundsätzlich nicht berechtigt ist. Meine Begründung hat die NZZ jetzt veröffentlicht.
Klassengesellschaft reloaded
15. September 2019Aktuell kann im künstlerischen wie im akademischen Diskurs eine Renaissance des Klassen-Begriffs beobachtet werden. Sie war der Ausgangspunkt für ein Arbeitsgespräch der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft. Das Gespräch fand im Literaturforum im Brecht-Haus, Berlin, statt und wurde von Falk Strehlow und Wolfram Ette zusammen mit mir am 10. und 11. September 2019 veranstaltet. In einem kurzen Statement habe ich einleitend versucht, anhand zweier Beispiele zu skizzieren, wie der Klassen-Begriff im Gegenwartstheater thematisiert wird, um zu fragen, ob sich Bezüge zu Heiner Müller herstellen lassen.

1. Beispiel: Im April letzten Jahres hatte im Neumarkttheater Zürich das Stück Café Populaire von Nora Abdel-Maksoud Premiere. Es beginnt mit folgendem „Prolog“:
Rampe. Zum Publikum.
Charmant und einladend.
Püppi: Hi
Aram: Hi
Don/Svenja: Hi
Don: Das Thema des heutigen Abends ist Klassismus. Wir nennen es auch: Den unbekannten „Ismus.“ Ja, nicht Klassizismus, Klassismus.
Püppi: Hat zu tun mit Klasse.
Svenja: Sozialer Klasse.
Don: Richtig. Da gibt es zum Beispiel diese ganzen TV-Serien über die Unterschicht, das ist übrigens schon klassistisch, „Unterschicht“, wenn man immer von oben nach unten spricht, Frauentausch und so. Jetzt im Moment ist eher Rassismus en vogue. Und Sexismus. Vor allem am Theater.
(Text hier und im Folgenden nach Nora Abdel-Maksoud:Café Populaire, Beilage in Theater heute August/September 2019).
Abdel-Maksouds Stück beginnt mit einer Szene, die sich souverän der Theatermittel des ausgehenden 20. und des frühen 21. Jahrhunderts bedient: direkte Publikumsansprache, tendenziell diskursiv, mediale Authentizitätsdiskurse thematisierend und damit reflektierend. Schließlich und nicht zuletzt eine anständige Prise Metatheatralität. Auf diese Weise thematisiert das Stück einen aktuellen Diskurs, den Klassismus-Diskurs, den zuletzt Patrick Eiden-Offe grundlegend erforscht hat (in: Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats, Berlin: Matthes und Seitz 2017). Café populaire wählt Theatermittel, denen gewiss nicht abgesprochen werden kann, dass sie aktuell wertgeschätzt werden und dass sie zeitgemäß sind. Die Verbindung zwischen Form und Inhalt überzeugt dadurch, dass wiederholt klassistisches Sprechen sowie diskriminierende Ausdrucksweisen inszeniert werden. In der Schlussszene schießt Svenja in einem Monolog eine Reihe von Prekariatswitzen ab und beendet das Stück mit einer erneuten Hinwendung an das Publikum provokant: „Wieder Scherz. Ich mach nur Witze. Warum man hier so gut Witze über Arme machen kann? Weil sie sich die Karten eh nicht leisten können.“
Der metatheatrale Witz, mit dem Abdel-Maksoud hier arbeitet, gleicht dem, den schon Heiner Müller in Germania Tod In Berlin genutzt hat:
Clown 1 böse: Ich werde dir zeigen, was eine Naturgewalt ist. Schlägt ihn. Ich bin der erste Diener meines Staates.
Clown 2 leckt an dem Krückstock und fängt an, ihn aufzuessen. Den Stock essend, richtet er sich an ihm auf, bis er stocksteif dasteht. Marschmusik, die in Schlachtendonner übergeht. Der Bühnenhintergrund öffnet sich vor einem Feuer, aus dem Sprechblasen aufsteigen: JEDER SCHUSS EIN RUSS JEDER TRITT EIN BRIT JEDER STOSS EIN FRANZOS und in das Clown 2 im Paradeschritt marschiert.
Clown 1 Ich hatt es mir eigentlich anders vorgestellt, weil ich französisch spreche und sehr aufgeklärt bin. Aber es geht natürlich auch.
Der Hund, ebenfalls im Paradeschritt, folgt Clown 2.
Clown 1 zu dem Hund: ET TU, BRUTE!
(Heiner Müller: Germania Tod in Berlin, Berlin 1977, S. 46.)

2. Beispiel. Anfang September hatte Kevin Rittbergers neues Stück IKI.radikalmensch im Rahmen des Festivals Spieltriebe am Theater Osnabrück Premiere. Auch in Rittbergers Drama wird „Klassenpolitik“ thematisiert, ergänzt um das Thema Klimapolitik. Im Zentrum des Stücks von Rittberger stehen die Dialoge zwischen Peter Vogel und der Titelfigur IKI.radikalmensch: eine Intime Künstliche Intelligenz, die aus einer Sexpuppe weiterentwickelt wurde. In einem Monolog schildert Peter eine Begegnung während einer Dienstreise:
Und dennoch schämte ich mich, als ich einem Bauern im Regenwald gegenüber stand, und ihm erklärte, dass der Brandrodungswanderfeldbau nicht mehr klimaverträglich war. Er betrachtete mich von oben bis unten – der weiße Mann erklärt dem Ureinwohner, was er zu tun und zu lassen hat. Aber die Mission war unverzichtbar, darauf hatte sich die progressive Staatengemeinschaft geeinigt, unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht und Religion.
(Alle Zitate aus dem Bühnenmanuskript von Rittbergers Stück.)
Diese Szene gleicht einem monologischen Ausschnitt aus Heiner Müllers Der Auftrag, die Der Mann im Fahrstuhl heißt und künstlerisch schon vielfach bearbeitet wurde:
Ich verlasse den Fahrstuhl beim nächsten Halt und stehe ohne Auftrag, den nicht mehr gebrauchten Schlips immer noch lächerlich unter mein Kinn gebunden, auf einer Dorfstraße in Peru. Trockener Schlamm mit Fahrspuren. … Auf einem grasüberwachsenen Bahndamm basteln zwei Knaben an einer Kreuzung aus Dampfmaschine und Lokomotive herum, die auf einem abgebrochenen Gleis steht. Ich Europäer sehe mit dem ersten Blick, daß ihre Mühe verloren ist.
(Aus: Heiner Müller: Herzstück. Berlin 1983, S. 60-62.)

Nora Abdel-Maksouds Stück entwickelt formal theatrale Verfahren weiter, die Müller spätestens seit Ende der 1960er Jahre literarisch initiiert hat und die auf dem Theater in das mündeten, was gemeinhin postdramatisches Theater genannt wird und was nach meinem Dafürhalten literaturwissenschaftlich als radikale Episierung begriffen werde sollte.
Kevin Rittbergers Stück folgt Müller weniger ästhetisch nach. Vielmehr ahmt er produktiv eine Szene aus Müllers Drama nach, die konzentriert die Widersprüchlichkeit, ja den Widerstreit verschiedener politischer Anliegen vorführt und zum Ausdruck bringt und dabei – auch das erinnert an Müller – nicht frei von Defaitismus ist.
Was die Beispiele damit zeigen, ist die anhaltende formale und – im Fall Rittbergers auch – thematische Aktualität Müllers. Gleichzeitig scheinen Müllers Ausdrucksweisen mit politischen Positionen assoziiert zu werden. Allerdings überrascht das mehr als es überzeugt, denn die politischen Verhältnisse haben sich seit Müllers radikalen Textexperimenten doch entschieden verändert, so dass sich die Frage stellt, ob seine formalen Angebote für die Gegenwart weiterhin gültig sind oder ob es nicht vielmehr an der Zeit wäre, neue Formen zu suchen. Das Arbeitsgespräch hat das immer wieder thematisiert. Die Antworten waren alles andere als einhellig.

© fkhuhn
Am zweiten Tag hatte ich abends das Glück, das neue Buch von B.K. Tragelehn, Roter Stern in den Wolken 2, vorstellen zu dürfen und mit ihm zusammen über sein Buch zu sprechen. Es ist immer wieder eine ganz besondere Erfahrung, mit Tragelehn über seine Arbeiten, seine Zusammenarbeit mit Heiner Müller und über seine Erfahrungen mit Brecht zu reden, bei dem er 1955 Meisterschüler wurde.

Tragelehns neues Buch beginnt mit einem klugen Essay über Brecht und Benjamin, in dem sich eine Schilderung findet, die das Arbeitsgespräch vielleicht ganz gut zusammenfasst:
Selbst Grundbegriffe führten jetzt in die Irre. Seit Jahrtausenden, seit die Menschheit der Arbeitsteilung gehorchend in Klassen gespalten war, die einander entgegen standen, hat sie so oder so oder so geträumt von einer Wiederkehr der Gemeinschaft: den Traum vom Kommunismus. Seit Marx wurde die Erforschung konkreter Voraussetzungen für die Realisierung solchen Traums Gegenstand des Denkens. Das hat man Marxismus genannt. Und Marx sagte, in elegantem Französisch, dass er jedenfalls kein Marxist sei: Tout ce que je sais, c’est que je ne suis pas Marxiste. Das erinnert mich an Brechts Antwort, als sich ihm im Theater nach einer Probe eine Mann mit den Worten vorstellte: Ich bin ein Brechtverehrer. Brecht sagte: Ich nicht.
(B.K. Tragelehn: Roter Stern in den Wolken 2. Berlin 2019, S. 11.)

Endlich wieder Theater
8. September 2019Mein erster Theaterabend in der neuen Spielzeit war ein Besuch beim Festival Spieltriebe. Die begeistern Osnabrück nun schon zum 8. Mal. Wie es mir gefallen hat, lest ihr auf nachtkritik.de
Hier noch ein paar Impressionen:




Biographismus
14. September 2018Im Mai hat Christian Kracht mit seiner Poetikvorlesung in Frankfurt nicht nur für Furore gesorgt (eine Dokumentation der zahlreichen Zeitungsartikel dazu wäre ein eigener Beitrag). Er hat zugleich nahegelegt, zumindest sein Werk biographisch zu interpretieren. Das setzt natürlich voraus, dass der Exeget etwas über die Biographie weiß – vielleicht sollte er sich idealiter gar auf die Spuren des Autors begeben oder (so die unbekannt sind) zumindest auf die des Erzählers, um eine möglichst gute Interpretation vorzulegen.
Nun sind biographische Interpretationen nicht gerade meine Stärke. Also dachte ich mir, ich folge einfach den Schritten von Krachts „Ich“ in Faserland.
Da ich keine Lust auf Scampis auf Westerland hatte und weil ich mir sicher war, was wohl passieren würde, wenn ich im Flughafen Frankfurt meine Barbour-Jacke verbrenne, habe ich mich in die Schweiz aufgemacht. Erstes Plus: Die Barbour-Jacke durfte zuhause und damit auf jeden Fall unbeschädigt bleiben. Schließlich hat sie der Erzähler in Faserland ebenfalls nicht dabei, als er Zürich hinter sich lässt und am Mythenquai entlang im Taxi nach Kilchberg fährt.

Kaum war der Entschluss gefasst, tauchte das erste Problem auf: Es war dermaßen heiß in Zürich, dass ich keine Lust hatte, die Straße entlang des Sees zu Fuß abzulaufen (um gewissermaßen verlangsamt die Taxifahrt zu wiederholen und um für jedes Detail sensibilisiert zu werden). Und weil ich ein armer Philologe bin und kein reicher Pop-Schnösel, leistete ich mir auch kein Taxi, sondern nahm ganz unkrachtig die Bahn.

So kam ich ganz schön ins Schwitzen, denn der Bahnhof von Kilchberg liegt am Fuße des Sees und der Weg zum Friedhof steigt ganz schön an. Ein Taxi, das mir zumindest das hätte ersparen können, fand ich am Bahnhof nicht. Während des Wegs nach oben flitzten die SUVs andauernd durch die schmalen Kurven, wovon in Faserland freilich nichts erzählt wird – vermutlich, weil’s in der Schweiz immer so beschaulich zugeht und die Menschen, die diese großen Autos fahren, abends immer in ihren wohlbehüteten Villen sitzen.
Falls die aber doch abends hier herumsausen, macht die Fahrt mit dem Taxi bestimmt keinen Spaß. Ohne Zweifel zu viele Kurven und abrupte Bremsungen, weil dauernd entgegenkommende SUVs zum Bremsen nötigen.

Die eigentliche Überraschung war aber schließlich das Grab von Thomas Mann. Ok, es war mitten am Tag, als ich da war. Aber wie kann man das Grab von Thomas Mann auf dem Kilchberger Friedhof nicht finden? Zwar gibt es keine Schilder. Aber am Eingang zum Friedhof hängt eine große Karte, auf der man sich wunderbar orientieren kann. Ich stellte mir Stuckrad-Barre vor, wie er bei einem seiner Abende hier in der Gegend kopfschüttelnd vor der Tafel steht und sich denkt: „Mensch, Krachti, was hattest Du denn eingeworfen, als Du hier rumgeschlichen bist.“

Die eigentliche Überraschung aber war das Grab von Golo Mann, das inzwischen ganz alleine am Friedhofsrand liegt (ostentativ weit vom Vater entfernt). Zumindest das muss man doch finden, dachte ich mir. Aber auch davon kein Wort in Faserland.
(Ich schreibe ganz bewusst zwischen die beiden Fotos, um die von Golo gewünschte Distanz zu symbolisieren).

Nach diesem enttäuschenden Versuch, fragte ich mich selbstkritisch (dazu ist man als Philologe schließlich geradezu berufen), ob vielleicht die Rahmenbedingungen zu schlecht waren: zu hell, zu warm und also keine guten Voraussetzungen für die biographisch-orientierte Interpretation. Mir blieb nur die Flucht nach vorn: Wieder runter an den See, den Fährmann anrufen und übersetzen.

Aber erneut Ernüchterung: kein Fährmann weit und breit. Nicht einmal ein dunkler Nachen, mit dem ich auf eigene Faust hätte ablegen können. Nichts.
Am Rand immerhin hing ein Fahrplan für die Fähre. Und jetzt kommt’s: Man kann gar nicht vom Anleger Kilchberg aus mit der Fähre auf die andere Seeseite fahren. Mir wurde mit einem Schlag deutlich, dass Christian Kracht sich das alles ausgedacht haben muss. Vielen Dank für diese Erfahrung und das durchgeschwitzte Hemd, lieber Biographismus!

Luther auf der Bühne
11. Oktober 2017
Meinen ersten Luther-Vortrag habe ich im März gehalten; Schluss ist mit den Reformationsfeierlichkeiten ist zumindest für mich Ende November mit einem Abend-Vortrag. Dazwischen lagen weitere Diskussionen, Vorträge, Ausstellungsbeiträge und -besuche.
Am letzten Wochenende habe ich dann zudem das Luther-Stück von Feridun Zaimoglu in Kiel besucht. Es hat der Reformation eine bemerkenswerte Facette abgerungen und war insgesamt sehr überzeugend. Wie’s genau war, habe ich auf nachtkritik ausgeführt.
Revolution
24. April 2017Am Samstag, wenige Stunden bevor in Frankreich die Wahllokale geöffnet wurden, habe ich mir das französische Stück der Stunde, Pommerats Ça ira, in Münster angesehen. Wie diese dramatische Auseinandersetzung mit den Anfängen der französischen Revolution realisiert wurde und wie es mir gefallen hat, lest ihr auf nachtkritik.de.
85 Dinge im Literaturhaus-Garten
21. März 2017Es gibt einen Vers von Donald Berger, den ich einfach nur zitieren möchte. Er ist aus seinem Gedicht I Forget:
At the café outside Literaturhaus once, Monika Rinck took at least 85 things from her pocketbook and covered the table with them, and then she did it again.
Donald Berger: The Long Time. Die währende Zeit. Übers. v. Christoph König. Göttingen 2015, S. 42.
Ich stelle mir das als Gemälde von Max Liebermann vor: „Monika Rinck zeigt Donald Berger den Inhalt ihrer Handtasche (zum zweiten Mal)“.
Volksbühne Berlin
8. Dezember 2016Eigentlich steht bei meiner Rundreise durch die Berliner Bühnenlandschaft das heutige Konzerthaus am Gendarmenmarkt auf dem Programm. Aber da die Debatte um die Neuausrichtung der Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz weiterhin virulent ist, dachte ich mir, dass ich meinen Beitrag dazu vorziehen sollte. Beginnen wir vielleicht mit einem alternativen Blick. Ich hatte letztens das Glück, den amerikanischen Lyriker Donald Berger folgendes Gedicht lesen zu hören:
People’s Stage
I love how you looked on that day.
I didn’t know you and still
Don’t know you,
The day of the walking X’s, no, the walking wheels.I have to be home before two.
I let in a miniature face.
The shadow under the S-Bahn bridge is cold.
The man-sized graffiti almost a comfort.Take those thoughts of a hand the fireflower put it
Over the window that reads, in English,
The Unknown Friends.(Donald Berger: The Long Time. Die währende Zeit. Poems/Gedichte. Aus d. Englischen v. Christoph König. Göttingen 2015, S. 10).
Als ich schon vor längerer Zeit die Volksbühne nachgebaut habe, hing mir – wie so vielen – noch der Tod von Bert Neumann nach. Ich wollte deswegen auf jeden Fall auch das große ‚OST‘ auf dem Dach der Volksbühne realisieren, was bei Lego ja nicht so leicht ist, weil Lego insgesamt kein Freund von Biegungen, sondern von Ecken und Kanten ist. Dementsprechend war aber der Rest der Volksbühne verhältnismäßig gut zu realisieren.

Was ich damals hingegen nicht nachgebaut habe, war das ‚Räuber-Rad‘ oder auch ‚laufende Rad‘ aus Castorfs Räuber-Inszenierung (die ich leider nie gesehen habe). Dass ich’s nicht gebaut habe, war auch dem Umstand geschuldet, dass das Rad auf dem Vorplatz steht. Bergers Gedicht aber hat mich daran erinnert, wie sehr das Rad den Besuchern der Volksbühne schon früh signalisiert, dass sie jetzt einen besonderen Raum betreten – einen Raum, in dem andere, nicht-bürgerliche Ordnungen und die ganze Energie des Sturm und Drang herrscht.
Dieser Raum, den die Volksbühne bis heute besetzt, symbolisiert ideal, was sich seinerzeit schon Ivan Nagel und seine Mitstreiter von dem Haus erhofften, als sie das bis heute wirkungsmächtige „Gutachten“ (das ja eher ein Masterplan für die Berliner Theaterlandschaft war) vorlegten:
Das hässlichste große Theater Berlins ist (ebenfalls deshalb) am besten geeignet, um ein junges Theater zu gründen: mit ästhetischer Innovationslust, politischer Schärfe wie (und sicher ganz anders als) die einstige Schaubühne am Halleschen Ufer. In diesem Haus, mit der U-Bahn vor den Pforten, zwischen Prenzlauer Berg und Kreuzberg gelegen, den Platz mit dem Programmkino Babylon teilend, dem Liebknecht-Haus brisant benachbart, aus Art déco- und SED-Bau mit kostbar scheußlichem Material zusammengesetzt, ließe sich etwas bewegen. Das Haus ist nicht nur auf der Hauptbühne, sondern in drei Foyers und einer Studio-Bühne bespielbar: in seiner besten Nachkriegs-Zeit haben das Benno Besson, Manfred Karge/Matthias Langhoff, Heiner Müller vorgeführt – in Ostberlin unvergessen.
(Ivan Nagel: Streitschriften. Politik, Kulturpolitik, Theaterpolitik. Berlin 2001, S. 133).

Verteidiger der aktuellen Entscheidung zur Neuausrichtung der Volksbühne erinnern gerne daran, dass auch das Gutachten von 1991 für viel Widerstand gesorgt hat. Das ist zweifellos richtig. Nur artikulierte sich der damals vor allem, weil die Westberliner Theaterlandschaft beschnitten wurde. Die Entscheidung, Castorf die Volksbühen zu überantworten, wurde zwar nicht immer begrüßt, aber im Zentrum der Debatte stand diese Entscheidung nicht.

Dieser Blick zurück auf das Gutachten von Nagel führt vor, dass die Vorschläge damals auf der Basis von verschiedenen klar benennbaren Kriterien formuliert wurden: die neue Leitung sollte ein historisches Bewusstsein für den genius loci haben, ästhetisch innovativ, politisch ’scharf‘ sowie ‚jung‘ sein, was sich sowohl auf die Belgeschaft als auch das Publikum beziehen dürfte. Die künstlerische Spannung ergab sich also allein schon aus diesen Voraussetzungen: aus der ästhetischen Auseinandersetzung mit der Geschichte und dem Ziel, dafür mit ‚anderen‘ Mitteln ein ‚anderes‘ Publikum zu gewinnen.
In Berlin wurde knapp ein Jahrzehnt später, mit dem Wechsel der künstlerischen Leitung an der Schaubühne, erneut versucht, eine solche Grundspannung zu erzeugen. Auch die Besetzung der aktuellen Intendanz am Gorki, mit Shermin Langhoff seit 2013, war von einer solchen Innovationslust gekennzeichnet. Die aktuellen Entscheidungen in Berlin hingegen orientieren sich ganz augenscheinlich an einer ganz anderen Größe, nämlich am vermeintlichen Publikumsgeschmack. Das hat dazu geführt, dass auf einmal eine Riege älterer und alter Männer zusammen mit Sasha Waltz die Leitung aller demnächst vakanten Häuser überantwortet wird – in der Hoffnung, dass die das schon richten werden, weil sie’s bisher ja auch nicht schlecht gemacht haben.
Dass das bei der Volksbühne besonders viel Widerstand ausgelöst hat – und das sollte man sich in aller Deutlichkeit klar machen –, ist nicht nur dem Umstand zu verdanken, dass Castorf in den letzten 25 Jahren ein ganz einzigartiges Theater mit ganz speziellen Publikumsbindungen geschaffen hat. Es ist auch dem Umstand geschuldet, ästhetische Fragen nicht nur aktuell-diskursiv, sondern auch historisch zu reflektieren und so Ausdrucksformen Raum zu geben, die beispielsweise Nagel sicherlich fern standen. Offenbar ästhetisch wie politisch großzügig hat er gleichwohl ein Theater ermöglicht, das inzwischen ein Viertjahrhundert der Theatergeschichte Berlins geprägt hat. Man kann sich nur wünschen, dass mit dem heutigen Tag eine solche Hellsichtigkeit wieder in die Kulturpolitik Berlins einkehrt.

Veröffentlicht von kai bremer