Frauengold und Realismus

12. September 2016

Derzeit boomt in der Belletristik (wieder einmal) der autobiographisch fundierte Realismus, auch wenn Kempowski bald zehn Jahre tot ist und Kurzeck fast vier. Von Kurzeck ist Anfang des Jahres das Fragment vom sechsten Band seines Zyklus Das alte Jahrhundert erschienen. Gerhard Henschel jagt mit viel eigenem und Kempowskis Witz seinen Helden Martin Schlosser durchs Leben, das sehr dem des Autors gleicht (zuletzt in Künstlerroman). Andreas Meier hat den Horizont seines Erzählers jüngst immerhin bis in den Kreis erweitert und lässt ihn damit die Landschaft erleben, die auch Kurzecks „Ich“ nach der Vertreibung Heimat wurde. Joachim Meyerhoff hat es mit dem dritten Teil seines autobiographischen Roman-Projekts Alle Toten fliegen hoch auf die Longlist zum deutschen Buchpreis gebracht. Benjamin von Stuckrad-Barre hat all diesen Ego-Dokumenten vielleicht gar die Krone aufgesetzt, indem er mit Panikherz eine herzergreifende, anti-ironische Konversionserzählung vorgelegt hat, bei der man sich die ganze Zeit fragt, ob das überhaupt noch Literatur ist oder eine über 550 Seiten lange Beichte.

Dieser Realismus ist sehr traditionsbewusst, auch wenn er sich ganz der Gegenwart bzw. jüngsten Vergangenheit verhaftet gibt. Henschels Romane sind nicht nur eine stillistische Verneigung vor Kempowski. In Bildungsroman wird auch erzählt, wie Martin Schlosser Kempowski kennenlernt. Von Stuckrad-Barre singt nicht nur ein Loblied auf seinen Retter Udo Lindenberg, sondern ebenso auf die Literatur von Bret Easton Ellis. Meyerhoff kokettiert mit dem einfältigen Staunen des Schelmenromans und lässt den Leser gerade dadurch permanent zweifeln, ob das alles tatsächlich so passiert ist.

Auf je unterschiedliche Weise sind die Romane also alle kleine literarische Ereignisse. Aber ihr wesentlicher Kniff ist immer wieder, dass sie den Reiz des Authentischen verströmen. Der ergibt sich bei von Stuckrad-Barre angesichts der Schonungslosigkeit, mit der von seinen Abstürzen berichtet wird. Henschel schildert kleine Details, die die historische Differenz wunderbar ironisch aufblitzen lassen, wenn Schlosser in den 1980er Jahren beispielsweise angeekelt feststellt, dass sich seine neue Freundin die Achseln rasiert.

An diesem Realismus-Boom kommt man also derzeit nur schwer vorbei und ich habe mich ihm zuletzt auch gerne hingegeben. Meist war die Lektüre ein Spaß, selten mal pflichtbewusstes Abarbeiten. Aber irgendwie stellte sich zuletzt immer häufiger das Gefühl ein, dass mir was fehlt. Was das war, wurde mir jetzt deutlich, als ich Christopher Kloebles neuen Roman Die unsterbliche Familie Salz gelesen habe.

img_5121 Anders als die vielen autobiographisch fundierten Romane versucht Kloeble einfach mal eine tolle Geschichte so zu erzählen, wie das eben nur Literatur kann. Von Kapitel zu Kapitel wechseln die Erzähler, die Geschichte der Familie Salz springt zu Beginn von der Gegenwart ein Jahrhundert zurück, um sich dann in Episoden der Gegenwart wieder zu nähern und in der Zukunft zu schließen. Das alles wird entspannt und unspektaktulär erzählt, zielt anders als viele realistische Romanen nie auf billige Pointen.

Zudem ist die Geschichte der Familie Salz eine besondere, wie sie sich nur in der Literatur ereignen kann. Denn besonders die Frauen der Familie haben ein besonderes Verhältnis zu Schatten – ihren eigenen und fremden. Ein Kapitel erzählt gar ein Schatten. Hier zeigt sich dann die ganze erzählerische Meisterschaft von Kloeble, weil das nie phantastisch oder abgedreht klingt, sondern angesichts der besonderen Familiengeschichte schlicht plausibel.

Kloebles Erzählkunst zeigt sich aber auch daran, wie er mit Details umgeht. Man kann das an „Frauengold“ gut erläutern. Bis vor ein paar Monaten wusste ich nicht, was das ist. Dann las ich in Panikherz, wie Thomas Gottschalk Benjamin von Stuckrad-Barre davon erzählte:

Er zeigt mir auf seinem iPhone einen Werbespot aus den 60er-Jahren, um zu illustrieren, wogegen es damals ging und was die Bundesrepubliksnormalität war: „Frauengold“. Das war einfach Alkohol, ein als stimmungsaufhellendes Tonikum getarnter Trümmerfrauenflachmann. Der Mann geht zur Arbeit, die Frau kocht und macht sauber. Und gegen Traurigkeit, Einsamkeit und Sinnlosigkeit kippt sie sich tagsüber Frauengold genannten Alkohol ins Hirn, dann muss man nicht zickig sein, sonder hat was Warmes auf dem Tisch, wenn Vati heimkommt, oder entschuldigt sich beim Chef, wenn der einen angeschrien hat – mit Frauengold intus konnte man das lockerer sehen, war man wohl mal wieder frauentypisch hysterisch gewesen.
(S. 518)

In Panikherz symbolisiert „Frauengold“ das spießige Patriachat der 50er und 60er Jahre. Der Erzähler distanziert sich davon deutlich und urteilt moralisch über die Zeit.

In Kloebles Roman ist die junge Aveline Salz von „Frauengold“ abhängig. Das wird aus ihrer Sicht erzählt, so dass sich der Blickwinkel auf dieses Gesöff gänzlich ändert. Natürlich geht man zu ihrem Alkoholismus gleich auf Distanz, aber Kloeble schafft zugleich Verständnis für die Figur, statt auf Zeitkritik zu setzen. Ihm gelingt es, ein Gefühl dafür zu vermitteln, warum ein später dann verbotenes, heute von den meisten Menschen vergessenes Getränk einmal ein wirklicher Erfolg war – gerade weil Aveline Salz keine Trümmerfrau ist und auch keine platte patriachale Erwartung erfüllen muss. Auf dieses und viele andere Weisen führt Die Geschichte der unsterblichen Familie Salz vor, warum es manchmal viel spannender ist, einen Roman zu lesen, der nicht in erster Linie darum bemüht ist, möglichst das zu erzählen was war oder sicher hätte gewesen sein können, sondern eine besondere Geschichte, statt bloß distanziert und ein paar krachende Phrasen rausschießend auf „Bundesrepubliksnormalität“ zurückzublicken.

Aveline Salz ist eine Abiturientin und zu jung für „Frauengold“. Aber Kloebele lässt sich von solchen Eckdaten gar nicht irritieren. Er lässt sie, statt auf die Abifeier zu gehen, lieber drei Flaschen „Frauengold“ kaufen und sich ins Bett legen. So sieht kein Zeitpanorama aus, sondern ein Blick in Abgründe – in zeitlose Abgründe.

 

 

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Literatikkritur

2. September 2016

Pflichtbewusst habe ich mich jetzt einmal durch Lyrik von Jetzt 3. Babelsprech gearbeitet: eine Anthologie mit zeitgenössischer Lyrik, herausgegeben von Max Czollek, Michael Fehr und Robert Prosser. Als ich mir das Buch gekauft habe, habe ich mich vom Werbetext auf der Rückseite einladen lassen: „Die wichtigsten Stimmen der jungen deutschsprachigen Lyrik“ heißt es da. Ist natürlich vielversprechend.

War dann aber nicht so. Vielmehr habe ich mich über viele Gedichte in dem Buch geärgert, über die harmlose Renaissance der Erlebnislyrik darin, über die einfallslosen Enjambements und lyrischen Ichs, die gern Celan wären, obwohl sie selbst für Rilkes Andächtigkeit zu schlicht sind. Natürlich sind bei über 300 Seiten auch starke Gedichte dabei. Immerhin kennen sich die Herausgeber ja wie nur wenige in der Gegenwartslyrik jenseits des Suhrkamp-Mainstreams aus. Aber ich muss hier jetzt nicht das Aschenputtel geben und Euch meine Favoriten oder die Harmlosigkeiten vorstellen. Denn das hat Konstantin Ames auf Signaturen längst getan. Und da er im Unterschied zu mir ein wirklicher Kenner der Gegenwartslyrik ist, verweise ich schlicht auf seine Kritik.

Trotzdem schreibe ich hier ein paar Dinge zu der Anthologie auf, weil im Anschluss an Ames‘ Kritik ein Text erschienen ist, den man Metakritik nennen kann. Auf Ames hat auf Signaturen nämlich Tristan Marquardt reagiert. Marquardt hat zwar in Lyrik von Jetzt 3 vier Gedichte publiziert. Gleichwohl fühlt er sich nicht genötigt, die Anthologie zu verteidigen, was ich sehr überraschend fand, als ich seinen Text las. Vielmehr nutzt er die Kritik von Ames, um über den Stand der Lyrik-Kritik nachzudenken. Das Problem von Anthologien wie Lyrik von Jetzt 3 ist nämlich nicht nur, dass in solchen Büchern neben einigen Schätzen oft auch Gedichte versammelt sind, die besser im privaten Raum verblieben wären. Viel problematischer ist, und da stimme ich Marquardt zu, dass die Kritik vielfach unqualifiziert ist.

Es gibt aktuell, das belegt das Buch schon rein quantitativ, eine wirklich breite zeitgenössische Lyrik. Sie hat formal und inhaltlich viele Facetten. Das Problem der unqualifizierten Kritik ist nun, dass die meisten Kritiken etwa in den einschlägigen Online-Portalen oder Zeitschriften von denen geschrieben werden, die besonders viel Ahnung von der Materie haben. Das sind die Lyriker selbst. Die sind aber – naturgemäß – keine Kritiker. Das birgt das Risiko von Gefälligkeitsrezensionen oder von Fachidiotie.

Daneben gibt es dann einige wenige professionelle Kritiken in Zeitungen und ähnlichen Rezensionsorganen. Die Kritiker dort, spätestens aber die Redakteure, die die Kritik dann redigieren, kennen sich leider aber oft viel zu wenig mit dem ästhetischen Kontext aus, in dem die Gedichte erscheinen, so dass sie sich entweder auf die Zusammenfassung beschränken oder historisch problematische Vergleiche anstrengen.

Veranschaulichen lässt sich das beispielsweise an einer insgesamt gar nicht schlechten Kritik, die über die Anthologie in der Welt erschien. Sie trägt, das kann man vermutlich nicht dem Autor Tom Schulz anlasten, den Titel In Babylon kennt man keine Reime mehr. Das ist im Hinblick auf den Titel (Babelsprech) und die Textsorte Anthologie ein kluger Titel. Nur impliziert das „mehr“, dass in der Lyrik bis vor kurzem all überall noch Reime waren – egal, ob das jetzt ironisch gemeint ist oder ernst. Diejenigen von Euch, die bis hierher gelesen haben, muss ich wohl nicht davon überzeugen, dass das mit dem Reim nicht erst seit gestern „nicht mehr“ ganz so zwingend im Gedicht ist.

Schulz‘ Kritik hat zudem das Problem, das Marquardt berechtigterweise beklagt: Erst fasst er sehr lang zusammen und lobt höflich ein paar der beteiligten Lyriker (weniger ihre Texte), um schließlich den „Zauber der Poesie“ (Eichendorff!, Rilke!) zu beschwören und elegisch festzustellen: „Das Gedicht kennt von Hause aus keine Grenzen, es will ins Freie und Offene. Es will leuchten und manchmal brennen.“

Eine derartige Gedicht-Anthropologie mag der eine gerne lesen, der andere nicht. Was solche Sentenzen – zumal in ihrem Absolutheitsanspruch – aber sicherlich nicht liefern, ist eine kritische, die Ästhetik berücksichtigende Auseinandersetzung. Das kann nur eine konkrete, z.B. exemplarische Betrachtung einzelner Gedichte.

Dafür muss man übrigens gar kein Lyrik-Nerd sein. Wie man sehr gut an den Arbeiten von Max Czollek zeigen kann. Er ist einer der drei Herausgeber des Bandes. Dass er zu dem Buch selbst kein Gedicht beigetragen hat, ist nur angemessen. Auch wenn ich selbst sehr gerne etwas in der Anthologie von ihm gelesen hätte. Czollek ist sehr gut vernetzt, u.a. Mitglied des Lyrik-Kollektivs G13, das man nur empfehlen kann. Mehrere Mitglieder des Kollektivs finden sich auch in Babelsprech. Ich schildere Euch das, weil man sich all das zwar in den biographischen Notizen des Buches anlesen kann. In der Gliederung des Buches schlägt sich das hingegen in keiner Weise nieder. Warum hilft mir die Anthologie nicht, künstlerische Zusammenhänge in der jungen Lyrik zu finden? Indem in dem Buch immer hübsch ein Dichterlein nach dem anderen mit drei, vier Beispielen seines Schaffens vorgestellt wird, verliere ich mich als Leser nicht nur. Mir wird die Orientierung, die die Autoren selbst durch ihren Zusammenschluss zum Kollektiv geben, genommen.

Zugleich führt dieses Beispiel noch ein anderes Ärgernis vor: Viele der vertretenen Dichter produzieren nicht nur für die heimische Lektüre am Rechner oder im Buch. Viele von ihnen, wie z.B. G13, treten auch gerne auf und setzen darauf, dass sich ihre Lyrik erst im Vortrag voll entfaltet. Das hätte die Anthologie durch die Beigabe einer CD oder schlicht einer Download-Lizenz leicht berücksichtigen können, ja m.E. müssen. Stattdessen liest man und liest. Irgendwann schimmert eine Erinnerung an ein früheres Gedicht auf – eine Technik, ein Motiv, ein überraschender Klang –, doch ist man längst verloren in der Vielzahl der Gedichte und findet nichts wieder, was man irgendwann gelesen hat. Schließlich liest man eine solche Anthologie ja nicht in ein paar Tagen durch wie einen Roman.

Mir ist völlig klar, dass professionelle Literaturkritik historisch betrachtet keine Selbstverständlichkeit ist. Aber Marquardts Überlegungen machen deutlich, dass Kritik – obwohl für den Schriftsteller vielfach ein Ärgernis – letztlich ein Gut innerhalb des literarischen Feldes ist, das man nicht leichtfertig aufgeben sollte, weil nur die unabhängige und urteilende Kritik in der Lage ist, ein Kunstwerk überzeugend einzuordnen.

Angesichts von Marquardts Überlegungen stellt sich nur die Frage, wie eine solche Position wiedergewonnen werden kann. Wenn man sich die aktuelle Situation der Literaturkritik anschaut, ist sie sehr divergent. Die klassische Literaturkritik zerfasert, so mein Eindruck, aktuell sehr. Zunächst: Literaturkritik ist in der Masse Roman-Kritik. Schon kleinere erzählerische Formate haben es schwer. Die Roman-Kritik hat – mit allen faktischen Verschränkungen – aktuelle drei Kernbereiche:

  • die nicht-professionelle Roman-Kritik in Blogs, Foren und in den Kommentarspalten des Versandhandels,
  • die professionelle Roman-Kritik, die aber faktisch empathische Annäherung an den Autor und seine nicht zuletzt merkantilen Bedürfnisse ist (Jürgen Kaube hat dazu heute ein schönes Beispiel in der FAZ geliefert) und schließlich
  • die ‚klassische‘ Roman-Kritik, wie sie seit der Aufklärung etabliert ist.

Bei der Lyrik-Kritik gibt es diese drei Bereiche theoretisch auch, aber faktisch gibt es vor allem den Bereich a. und dann eben ein Hybrid aus b. und c., weil sich vielfach keine professionellen Kritiker für Lyrik finden, so dass die Redaktionen dann Kenner, die meist Teil der Szene sind, um eine Kritik bitten. Und da sagt selbstredend keiner „Nein“. Nur ist dann eben die Gefahr der Gunst-Kritik groß.

Was bedeuten diese Überlegungen nun aber für die Lyrik-Kritik? Lyrik hat aktuell nicht unendlich viele, aber doch einige Leser und vor allem Besucher von Lesungen. Es ist naiv, von den Zeitungen und anderen kritischen Formaten mehr gute Lyrik-Kritiker zu fordern, weil sich das für die Feuilletons, die eh schon unter Beschuss stehen, nicht rechnet. Bleibt die Möglichkeit, dass sich die Lyriker selbst nicht für Kritiken zur Verfügung stellen. Das erwägend, bedeutet freilich auch, sich resignativ einzugestehen, dass diese Option ein frommer Wunsch ist. Denn wem wollte man einen Vorwurf machen, wenn eine etablierte Tageszeitung um einen Artikel bittet, der immer noch weit besser bezahlt ist als jedes Gedicht?

Ein Ausweg aus diesem Dilemma könnte zumindest in Ansätzen sein, dass endlich mehr über Lesungen und Lyrik-Performances berichtet wird. Die Zuschauerzahlen sprechen deutlich dafür, dass es Leser solcher Kritiken geben könnte. Vielleicht sollte es ein Vorsatz für die professionelle Lyrik-Kritik werden, wenn möglich immer sowohl über den Text als auch über seine Aufführung zu schreiben. Also raus aus dem Kämmerlein der stillen Lektüre und rein ins pralle Leben der Lesebühnen und Literaturhäuser, liebe Kritik. Ein wenig Bewegung ist für die Figur eh nicht schlecht.

 

 

 

 


Gut genährt

3. August 2016

Selbst die Gegenwartslyrik stellt sich weiterhin dem, was wir Heimat nennen. Judith Zanders Debüt oder tau hat das gezeigt. Maja Haderlap mit langer transit und Daniela Danz mit V haben das 2014 eindrucksvoll bewiesen. Daniela Danz hat das Anliegen ihres letzten Lyrik-Bandes im Gespräch mit mir deswegen auch folgendermaßen zusammengefasst:

Es ging mir darum, die Themen Vaterland, Heimat, Grenzen mit poetischer Anstrengung ein wenig anzuheben und dann wenigstens etwas verändert wieder hinzustellen. Ich glaube, dass wir um diese Themen in der nächsten Zeit nicht umhinkommen werden, und denke, dass es Aufgabe von Kunst ist, das, was an ihnen zur Verfestigung neigt, flüssig zu halten, indem man sie bewegt. (die horen 260, S. 11)

Deutlich organischer als Zander, Haderlap und Danz hat sich nun Kerstin Becker mit Biestmilch dem Thema ‚Heimat‘ bzw. ‚Herkunft‘ gestellt. Beckers Buch ist bei Edition Azur erschienen, einer sehr guten Adresse für zeitgenössische Lyrik. In vier Teilen beschwört sie die Erinnerung an Kindheiten in ländlichen Umgebungen. Das erklärt auch den Titel: ‚Biestmilch‘ ist die erste Milch, die der Kuh nach dem Kalben einschießt und die aufgrund ihrer besonderen Zusammensetzung außerordentlich wichtig für die gesunde Entwicklung sein soll.

Und so sind dann auch dem ersten Eindruck nach Beckers Gedichte: mal kraftstrotzende Erinnerungen an frische Eier, die ausgesogen werden („Säuger“); mal ungemein prägnante Beschreibungen der Landschaften, durch die das kindliche ‚wir‘ treibt („Moosheim“); mal Einblicke in Gefühle der Kindheit, in Verletzungen und Verletztheiten damals („Menschenschlag“). Die Welt, in der das alles stattfindet, ist die Welt der LPGs und Traktoristen, also der großindustriellen Landwirtschaft der DDR, wie die Gedichte immer wieder andeuten, einzelne auch unmissverständlich klar machen.

Damit sind wir auch beim ersten Grund, weswegen die Lektüre von Biestmilch lohnt. Beckers Gedichte rufen nämlich Eindrücke und Gefühle auf, die man mit der Welt der LPGen so gar nicht verbindet. Sie beschwören eine Welt, die zumindest den Kindern trotz der gewaltigen Felder und der Massentierhaltung viele Freiräume und abenteuerliche Welten geboten hat und die heute weitgehend vergessen ist.

Der zweite Grund ist, dass Becker eine ungemein entspannte, nie bemühte Sprache hat, die immer wieder prägnant und geradezu epigrammatisch Erinnerungen und Momente auf den Punkt bringt. Ein Beispiel dafür mag das „Volkslied“ aus dem vierten und letzten Teil des Buches sein (S. 92):

Volkslied
es kommt die Zeit in der wir stark nach Kneipe stinken
und unsre Haut unsterblich in der Sonne glänzt
wir glühen voller Inbrunst unter Linden
am Brunnen vorm Fabriktore im Lenz

Ein Volkslied über einen Brunnen vor dem Tore – prägnanter kann man wohl kaum ein romantisches Setting aufrufen. Becker unterstützt das mit hübsch eingängigen Jamben und dem Hinweis auf die „Inbrunst unter Linden“. Doch ist das nur der oberflächliche Eindruck. Den Volksliedcharakter durchbrechen nicht nur der ostentativ unsaubere Kreuzreim (wenn er denn überhaupt noch einer ist) und die Verkürzung der Verse drei und vier gegenüber den ersten beiden. Am Ende löst sich die Romantik und mit ihr der Jambus eigentümlich („Fabriktore im Lenz“) auf, so dass der kurze Gesang, der als Erinnerung an die Jugend beginnt, im Angesicht des Fabriktors – und damit mutmaßlich im Angesicht der Zukunft als erwachsener Werktätiger – regelrecht ins Stottern gerät.

Becker schafft auf diese Weise Momente, die selbst einem gänzlich anders sozialisierten Leser wie mir eigentümlich bekannt erscheinen. Es gelingt ihr mit ihren Rückblicken das, was Daniela Danz mit ‚ein wenig anheben und verändert hinstellen‘ umschrieben hat. Das führt allerdings dazu, dass Becker die Gegenwart weniger im Blick hat als die eingangs genannten Lyrikerinnen. Sie ist eine lyrische Chronistin, die die Sprache nutzt, um neue und überraschend Rückblicke zu ermöglichen.


Schreiben ist Silber, reden ist Gold

14. Juni 2016

Im letzten Herbst ist mir das kurze Stück „The Trip“ von Anis Hamdoun beim Spieltriebe-Festival aufgefallen. Nach meiner Nominierung hat es dann das virtuelle Theatertreffen von nachtkritik.de gewonnen, was mich ungemein gefreut hat. Gestern nun konnte ich das Stück ein zweites Mal sehen – verbunden mit einem Gespräch, das ich zusammen mit Georg Kasch mit Anis Hamdoun geführt habe. War nicht nur eine große Freude, sondern erneut auch ein schöner Theaterabend. Jetzt beim zweiten Besuch der Inszenierung wurde mir deutlich, wie sehr sich der Blick auf die Bühne verändert, wenn sich auch die Politik verändert. Letzten Herbst rief das Thema des Stücks, die Flüchtlinge aus Syrien, noch ganz andere Gedanken und Assoziationen in mir auf als jetzt. Es spricht für das Stück, dass es sich so facettenreich darstellt.


Michel Houellebecq – alt und reif?

9. März 2016

Michel Houellebecq hat jüngst mal wieder provoziert. Haben einige von Euch bestimmt mitbekommen. Kurz vor seinem 60. Geburtstag und ein Jahr nach Unterwerfung hat er sich mit dem ersten Band einer Gesamtausgabe seiner Werke von 1991-2000 beschenkt bzw. sich von Flammarion beschenken lassen. Das wurde sogar in einem umfangreicheren DPA-Bericht gemeldet, der von zahlreichen Zeitungen abgedruckt wurde. Das zeigt schon, welch herausragende Stellung Houellebecq längst auch in Deutschland hat. Interessant ist dabei, wie über die Gesamtausgabe berichtet wurde.

Im Zentrum der Berichte steht der gute Michel selbst, der als „Skandalautor“ vorgestellt, auf dessen islamfeindliche Äußerungen hingewiesen und an dessen Äußerungen über französische Spitzenpolitiker erinnert wird. Über die Gesamtausgabe erfährt man hingegen so gut wie nichts – eigentlich nur, dass sie die Publikationen der Jahre 1991-2000 umfasst, dass das Buch laut Houellebecq selbst von bescheidener Qualität sei (was ich ausdrücklich bestätigen möchte) und dass er sich für diese Gesamtausgabe entschieden habe, weil seine Leser in kleinen Wohnungen lebten und also nicht so viel Platz für viele Bücher hätten: „Mes lecteurs ont souvent de petits appartements.“

Diese an sich schon großartige Reflexion über die eigenen Leser verpufft in den Zeitungsartikeln dann leider weitgehend, obwohl sie natürlich ein Kracher sondergleichen ist: Ein Autor, der wie vielleicht kein anderer der letzten drei Jahrzehnte das Spiel mit der Autorschaft auf immer neue Höhen getrieben hat, legt den ersten Band seiner Gesamtausgabe vor, meckert über deren Qualität, als habe er da kein Sterbenswörtchen mitzureden, und legt seinen Lesern letztlich nahe, die alten Einzelausgaben seiner Bücher wegzuwerfen und als Ersatz die platzsparende Gesamtausgabe zu kaufen. Er kann halt auch auf die charmante Art witzig sein.

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Der eigentliche Witz ist freilich, dass diejenigen, die zumindest in Deutschland über dieses Buch berichtet haben, darüber schreiben, als wäre das Vorwort ein philologischer Kommentar. Am Ende wirkt es tatsächlich auch kurz so, wenn Houellebecq in wenigen Worten schildert, dass außer eindeutigen Rechtschreibfehlern die Gestalt des Erstdrucks nicht geändert wurde. Aber selbst hier hört er nicht auf zu spotten und gibt den an dem ganzen Unterfangen Desinteressierten bzw. faktisch Unbeteilligten: „Autant au fond agir en littérature comme on est bien obligé de le faire dans la vie ; je ne demande pas de seconde chance.“

In Deutschland hat man aber weniger darauf als vielmehr auf das Unternehmen ‚Gesamtausgabe‘ an sich reagiert. So finden sich raunende Äußerungen von der Ehre der Gesamtausgabe, die nur alten Autoren zuteil werde. Ins selbe Horn stößt sogar Wiebke Porombka, die in der Zeit im Unterschied zu den DPA-Kopisten eine differenzierte und kluge Position zu dem Unterfangen entwickelt und zeigt, dass sie das vierseitige Vorwort vollständig gelesen hat (bei einigen anderen Artikeln muss man das eindeutig bezweifeln). Sie hält fest: „Nun ist nicht ausgeschlossen, dass die Gesamtausgabe eines Schriftstellers oder einer Schriftstellerin bereits zu dessen oder deren Lebzeiten begonnen wird. Es ist jedoch ungewöhnlich, zumal bei einem Schriftsteller, der wie der 1956 geborene Houellebecq vergleichsweise jung ist.“ Ähnlich überzeugend wie Porombka ist Jürg Altwegg in der FAZ. Er nutzt die Lektüre des Vorworts sogar zu einer bedenkenswerten These: „Die Gesamtausgabe ist auch ein verzweifelter Versuch, Houellebecq von der Islam-Obsession loszulösen, seine Bücher jenseits der Klischees und Verurteilungen zu lesen, die seine Wahrnehmung als Schriftsteller bestimmen und den Blick aufs literarische Werk verengen.“ Gleichwohl findet sich auch hier das erfurchtsvolle Geraune über die Gesamtausgabe und das Alter: „Michel Houellebecq, der an diesem Freitag sechzig Jahre alt wird, ist reif für eine Gesamtausgabe“, heißt es, wenn auch mit ironischem Unterton, im Vorspann des Artikels. Stellt sich nur die Frage, wann man reif ist für die Gesamtausgabe.

Beginnen wir mal mit historisch. Besonders früh reif bzw. frühreif war Gotthold Ephraim Lessing. Er begann 1753 mit der Herausgabe seiner sechsbändigen Schrifften. Bevor Ihr in Wikipedia nachguckt: Lessing war da 24. Er litt an keiner schweren Krankheit, so dass er meinen konnte, es nicht mehr all zu lange zu machen. Er war vielmehr ein recht selbstbewusstes Bürschchen und meinte, dass die Welt auf seine erste Gesamtausgabe gewartet hat. Hat sie nicht wirklich, aber das tut nichts zur Sache. Steffen Martus hat mit Blick auf Lessing und andere Autoren gezeigt, wie sehr die Herausgabe ein Akt der „Werkpolitik“ ist.

Lessing ist natürlich ein außergewöhnliches Beispiel. Aber es ist durchaus nicht so, dass Autoren in aller Regel bis zum schriftstellerischen Ruhestand warten (also bis zu ihrem Tod – mit Ausnahme von Philip Roth), bevor sie mit der Herausgabe ihrer Werke beginnen. Ähnlich selbstbewusst wie Houellebecq hat Günter Grass 1987 seine erste Gesamtausgabe präsentiert (damals noch bei Luchterhand). Übrigens zum – Ihr ahnt es – 60. Geburtstag. Und Grass hat dann, nur damit Ihr wisst, was passiert, wenn Michel es bis dahin schafft, 2007 (inzwischen bei Steidl) zum 80. eine zweite Gesamtausgabe vorgelegt. Blöd für alle, die dachten, nach 1987 kommt nicht mehr viel.

Lessing hat übrigens im ersten Band seiner Schrifften seine bis dato erschienenen Gedichte herausgegeben. Vielleicht gilt bei Lyrik insgesamt, dass man früher loslegen darf mit der Werkbildung. Durs Grünbein hat schon 2006 einen Band mit dem Titel Gedichte. Bücher I-III publiziert. Da war er 44. Seitdem wurde dieses Unterfangen aber nicht mehr fortgesetzt. Keine Ahnung, warum nicht. Als ich ein wenig überlegt habe, von welchen Autoren ich sonst noch Werkausgaben habe, sind mir mehrere Dramatiker eingefallen. Botho Strauß hat mit 47 angefangen, seine Stücke in einer mehrbändigen Werkausgabe herauszugeben, Yasmina Reza ihre Gesammelten Stücke erstmals mit 41.

Was sagt uns das? Bevor man anfängt, bedeutungsschwer zu raunen, dass einem Autor jetzt eine Gesamtausgabe gewidmet wird, sollte man sich klar machen, was die Gründe dafür sind. Das kann was mit Ehre zu tun haben, das kann was mit Wertschätzung des Autors durch seinen Verleger zu tun haben. Aber vor allem hat das etwas damit zu tun, wie sich ein Autor und sein Verlag werkpolitisch positionieren – und es hat natürlich schlicht was damit zu tun, ob Autor und Verleger meinen, damit Geld verdienen zu können. Wie so oft gilt auch hier: „It’s the economy, stupid.“ Gönnen wir Michel also zu seinem 60. Geburtstag den einen oder anderen Euro zusätzlich, ohne dass er dafür mehr tun musste, als ein vierseitiges Vorwort zu schreiben.


Barocke Vielzahl

29. Februar 2016

Vor längerer Zeit habe ich hier über Judith Zanders Lyrik-Debut oder tau geschrieben. Vor ungefähr zwei Jahren ist dann ihr zweiter Lyrik-Band manual numerale bei dtv erschienen. Viel zu spät bin ich jetzt ich endlich dazu gekommen, ihn zu lesen. Er ist wieder eine Freude, ja an manchen Stellen ein richtiger Spaß – durch komische Reime zum Beispiel: ‚teils‘ auf engl. ‚files‘. Oder durch nur einen Vers lange Gedichtchen – Sentenzen sollte man wohl besser sagen -, die an Selbstironie nicht zu überbieten sind:

heute schrieb ich dir ein langes mir gefallendes gedicht

Zu diesem direkten, selbstreflexiven Stil passt gut, dass Zander ihre neuen Gedichte dem Titel nach als Manual begreift. Das bedeutet aber nicht, dass man sich das Buch wie ein Tagebuch mit Datumsangaben vorstellen soll. Auch ist es nicht nach Erscheinungsorten sortiert. Stattdessen steht oben auf jeder Seite die Zahl der Verse, die das je folgende Gedicht hat. Da das Buch auch keine Seitenzahlen kennt, sind diese Zahlen das einzige Ordnungskriterium – aber eben eins, dass für die Orientierung des Lesers an sich völlig überflüssig ist. Seitenzahlen helfen mir, bestimmte Stellen in einem Buch wiederzufinden. Wenn ich ein literarisches Notiz- oder Tagebuch eines Dritten lese (wie etwa das von Max Frisch), beziehe ich Datums- oder Ortsangaben auf den Autor. Zanders Angaben zur Zahl der Verse scheinen im Unterschied zu all dem völlig überflüssig: Ob ein Gedicht kurz oder lang ist, sehe ich auf Anhieb, wenn ich die Seite aufschlage. Und ob ein Gedicht z.B. 26 oder 30 Verse hat, dürfte für die Entscheidung, das Gedicht zu lesen, kaum ausschlaggebend sein.

Was das Zahlenspiel gleichwohl bewirkt (zumindest, als ich die Gedichte gelesen habe), ist eine größere Konzentration auf die Form (zumal es keine Überschriften gibt). Ich habe immer wieder mal überprüft, ob die Zahl, die da oben steht, auch wirklich der Zahl der Verse entspricht. Zugleich unterstellt man wegen dieser Zahl dem gesamten Buch einen sehr persönlichen Zusammenhang. Die Zahlen sind rot, anders als die Gedicht-Texte. Das erinnert trotz der serifenlosen Schrift ein wenig an ein Notizheft, durch das man später noch mal zur eigenen Orientierung mit einem anderen Stift durchgeht und über dessen formale Bedingungen man sich einen Überblick verschaffen will.

Diesen persönlichen Eindruck unterstützt, dass am Ende des Buches ein „manual“ im Manual steht, in dem zahlreiche Erläuterungen, gewissermaßen Erinnerungsnotizen, zu finden sind. Sie beziehen sich auf kursive Stellen in den Gedichten, die den intertextuellen Kosmos von manual numerale markieren: Wörter, Phrasen und Sätze von anderen Schriftstellern vom Barock über Droste-Hülshoff, Sylvia Plath, die von Zander übersetzt wurde, bis Patti Smith. Allerdings sollte man deswegen nicht annehmen, dass auf diese Weise alle intertextuellen Bezüge erfasst werden. Es finden sich noch zahlreiche andere, die klug eingearbeitet sind und wie schon bei oder tau belegen, dass Judith Zanders literarischer Kosmos ein großer ist, der vom Barock bis zur Gegenwart reicht, von kanonischen Autoren bis zur Pop-Kultur.

In oder tau setzen sich viele Gedichte mit Zanders Heimat, Deutschlands Nordosten, auseinander, wie der Titel schon andeutet. Ein solches geographisches Zentrum hat manual numerale nicht, auch wenn sich weiterhin einzelne niederdeutsche Wendungen finden. Im Gegenzug scheinen mir nun mehr Gedichte in dem Sinne politischer als der Debutband zu sein, als dass jetzt sowohl mittels Form als auch Inhalt gesellschaftliche Frage thematisiert werden. So findet sich ein zunächst privat anmutendes Gedicht, in dem sich ein Ich über eine „sie“ äußert, die die „Komplizin“ ist und das Ich nicht verraten wird. Das kurze Gedicht besteht aus drei Strophen à drei Versen, die sich alle drei reimen. Durch deren jambischen Vierheber samt der männlichen Kadenzen mutet das Gedicht ähnlich filigran an wie ein Marschfoxtrott in der Tanzschule. Diese metrische Grobmotorik passt aber wunderbar zum kämpferischen Schluss, der fast schon wie ein Schlachtruf klingt:

doch fechten werden wir zu zweit
gegen die ungehobeltheit
binärer gegensätzlichkeit

Allerdings muss ich gestehen, dass diese metrisch etwas brachiale Kritik an heteronormativen Geschlechtsentwürfen nicht der eigentliche Grund ist, warum ich Zanders zweiten Lyrikband (sie hat außerdem bisher noch einen Roman geschrieben) so gerne gelesen habe.

Vor allem hat mich begeistert, wie sie sich mit der deutschen Barock-Literatur auseinandersetzt. Dass sie die gut kennt, hat schon oder tau gezeigt. Im manual numerale aber ist Zander noch vielfältiger geworden. Sie zitiert eine ganze Reihe prominenter Barock-Dichter (Gerhardt, Rist, Sibylla Schwarz, Zesen) und legt ein Sonett vor (allerdings nicht in Alexandrinern). Sie stellt sich der bukolischen Barockdichtung, wenn sie einen „landschaftsgarten“ besingt, in dem es „natürlich zugeht wie | auf arkadiens karten“, oder wenn das Ich eines anderen Gedichts eine Gruppe, ein Wir, auffordert, sich „gegensichtig [!] | schäfernamen“ zu geben und sich „hinter | pluralen clarinden-träumen“ hervorzurufen [sic]. Dabei wirken die Gedichte nie oberlehrerhaft oder angestrengt. Vielmehr sind Zanders Gedichte immer wieder sehr locker und wie nebenbei komponiert, so dass man sie leicht in ihrem Facettenreichtum unterschätzt:

ich bin die more-soldatin
und zieh von früh bis spat gen
utopia

Selbstverständlich erinnert Zander mit diesem Gedicht nicht nur an den Begründer der utopischen Literatur, Thomas Morus. Zugleich ahmt sie das Moorlied der KZ-Häftlinge Börgermoor nach („Wir sind die Moorsoldaten | und ziehen mit dem Spaten | ins Moor.) und daran, dass die utopische Sehnsucht, die das Ich als Gefolgsfrau von Morus („more-soldatin“) artikuliert, keine Erfüllung finden wird. So stimmt denn das manual numerale oft nachdenklich, auch wenn es seine Leser in vielen Gedichten und mittels spannender Formverspieltheiten gerne schmunzeln lässt und ästhetisch herausfordert. Ein Buch also, das nicht nur zahlreich ist, wie der Titel verspricht, sondern auch vielfältig wie nur wenige andere Werke der aktuellen Lyrik.

 


Bilder einer großen Liebe

27. Februar 2016

Und der Traum geht so: Fatih Akin geht über den roten Teppich, er trägt eine grüne Adidas-Jacke. Vielleicht steht die Autonama Spalier. Die trägt dann auch grün. All die anderen, die beim Film dabei waren, folgen Fatih. Alle sehen sehr glücklich aus, in manche Augen mischen sich ein paar Tränen.

Als der Film zu Ende ist, herrscht eine Sekunden Stille, bevor tosender Applaus losbricht. Alle erheben sich, alle jubeln. Nur weit vorne, so in der dritten, vierten Reihe bleiben ein paar Menschen sitzen: Carola Wimmer, Kathrin Passig, Marcus Gärtner und noch ein paar. Sie mögen nicht aufstehen. Sie lassen die anderen jetzt feiern. Sie gönnen das den anderen. Sie winken Fatih zu, als er sich im Rausgehen nach ihnen umdreht. Er sieht in ihre Augen, er sieht auf seine Jacke und weiß, dass er alles richtig gemacht hat.


Nora Gomringer: Morbus

6. Februar 2016
In memoriam Frank Möbus

In meinem Bücherregal ist der Buchstabe ‚G‘ besonders spannend. Ich habe schon länger den Eindruck, dass die Nachbarschaften, die ich hier regelmäßig bestaune, kein Zufall sind. George neben Gernhardt, das ist nicht frei von Ironie. Im Zentrum von ‚G‘ die Reihe meiner vier G-Olympier: Goethe, Goetz, Goldt, Gomringer. Aus der Ferne blinzelt Grünbein und wäre auch gern dabei, aber an den kraftstrotzenden Grass und Grimmelshausen kommt er natürlich nicht vorbei. Aber selbst die bilden keine direkte Allianz (auch wenn sie das im Geiste natürlich tun): Grillparzer, der kleine Frechdachs, hat sich heimlich dazwischen geschummelt.

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(c) Marco Rasch/LZG Gießen

Allein schon angesichts dieser Konstellation könnt ihr euch denken, dass ich es als großes Glück empfand, Anfang des Jahres eine Lesung von Nora Gomringer moderieren zu dürfen. Zur Vorbereitung habe ich natürlich ihren neuen Gedichtband Morbus gelesen. Wie sein Vorgänger Monster Poems sind in dem Buch wieder 25 thematisch zusammenhängende Gedichte versammelt (ergänzt werden beide bald noch um einen dritten Band mit 50 Gedichten zur Mode). Wie bei den meisten Büchern von Nora Gomringer üblich, liegt wieder eine CD bei, auf der eine Lesung ihrer Gedichte zu hören ist. Außerdem ist das Buch wie schon Monster Poems wunderbar vom Graphiker Reimar Limmer gestaltet. Ein richtiges kleines, feines Gesamtkunstwerk, das sogar noch denen zu empfehlen ist, die Nora Gomringer schon live erlebt haben.

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(c) Marco Rasch/LZG Gießen

Der Abend war ein voller Erfolg und hat sehr viel Spaß gemacht. Im Anschluss sind mir noch einige Gedanken zu der Lesung durch den Kopf gegangen, die vielleicht des Aufschreibens wert sind.

Bei der Lektüre von Morbus wurde mir klar, wie immer vielfältiger und auf angenehme Weise artifizieller Noras Gedichte werden. In Kritiken und in Gesprächen über sie wird gerne ihre Nähe zum Poetry Slam betont. Ihre großartig performten Auftritte (gerne auch zusammen mit anderen starken Live-Künstlern wie dem Wortartensemble) und die den Gedichten beiliegenden CDs scheinen das zu bestätigen. Da einige ihrer Gedichte zudem, obwohl in Summe vielmehr von feiner Ironie durchzogen, immer mal auch vor einer fetten Pointe nicht zurückschrecken, scheint der Hinweis auf die Slam-Tradition zu überzeugen.

Aber man muss sich nur Gomringers Lesung beim Gewinn des Bachmann-Preises ansehen, um zu wissen, dass sie auch ganz anders kann. Da begegnet uns eine konzentrierte, die eigene Sprache und das eigene Sprechen herausragend beherrschende Dichterin, die zugleich mit ihrer Kunst die Welt außerhalb ihrer Literatur reflektiert und ihren Facettenreichtum hörbar macht.

Was mich bei ihren Gedichten schon früh interessiert hat, ist ihre Auseinandersetzung mit dem Holocaust (z.B. „Und es war ein Tag. Und der Tag neigte sich“). Gomringer macht das nicht nur, indem sie die Erinnerung an den Holocaust mittels ihrer Lyrik immer wieder wachhält, sondern auch indem in ihren Gedichten immer wieder die Lyrik etwa einer Nelly Sachs oder Rose Ausländer nachklingt – ein Singbarer Rest gewissermaßen. Diese sprachliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust findet sich in Morbus wieder, in dem Gedicht über Typhus (Die Mädchen in Bergen-Belsen), das sich den Schwestern Anne und Margot Frank widmet („lange verborgen unter den Sternen, / mit wenig mehr als einer Stimme bedeckt.“).

Die große Kunst dieses Buches ist freilich, dass es gleichwohl kein trauriges Buch ist, wie man anhand dieses Beispiels und des Titels vermuten mag. Vielmehr ist es gerade angesichts der Nachdenklichkeit eine Verneigung vor dem Leben, ohne das es schließlich keine Krankheiten gäbe. So sind dann andere Gedichte putzmunter. In Herpeswaltz etwa hüpfen erst kleine Daktylen herum („Ich küss dich / Du küsst mich“), bis es anfängt zu jucken und der walzerhafte Takt jäh erstaunt (und metrisch kaum mehr eindeutig bestimmbar) abbricht: „Was tun wir jetzt“ – heißt es, eine Frage ohne Fragezeichen. Ratlosigkeit. Am Ende findet das Gedicht seinen Takt wieder, aber die Konstellation hat sich verändert: Die Tanz geht weiter, aber nicht mehr mit demselben Partner: „Aus mit uns“.
Dass ich mich angesichts solcher Verse von Nora zum nächsten Tanz auffordern lasse, wenn Mode erscheint, ist jetzt schon klar.