Bernd Stegemann, Gast-Dramaturg der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin, hat jüngst eine Anthologie zur Dramaturgie publiziert. Wer eine Einführung in das Berufsbild des Dramaturgen erwartet, wird enttäuscht. Doch ist es gar nicht das Anliegen Stegemanns, eine solche vorzulegen. Das macht er in der Einleitung umgehend klar. Vielmehr geht es ihm darum, wesentliche Texte zur Dramentheorie von Aristoteles bis zur Gegenwart sowie wesentliche Sekundärtexte dazu zu versammeln. Um es gleich vorweg zu sagen: Die Auswahl ist sehr überzeugend, auch wenn sich manch ein kreuzbraver Philologe gewiss gewünscht hätte, dass die hier präsentierten Häppchen das eine oder andere Mal etwas länger gewesen wären. Auch Stegemanns mehrseitige Einführungen zu den historisch aufeinander aufbauenden Kapiteln (es werden also nicht thematische Schwerpunkte gebildet) sind sehr informativ. Über die Akzentsetzung kann man gewiss trefflich streiten (warum etwa wird in der Einleitung zur Dramaturgie des Idealismus auf 13 Seiten Hegels ästhetische Theorie vorgestellt, um dann die Überlegungen zu Goethe und Schiller auf nicht einmal einer Seite (!) darzulegen?). Aber insgesamt eignet sich das Buch als Reader hervorragend für den akademischen Unterricht. Ich erprobe es im Moment in einem Seminar.
Interessant sind auch Stegemanns einleitende Überlegungen zur Handlung. Er versucht diese durch die Aufsplittung in Situationen zu erfassen, so dass er klären muss, was eine Situation ist. Stegemann versucht dies zu lösen, indem er von der Figur ausgeht, die in einer Folge von Situationen steht und versucht, sich ergebende Konflikte so zu lösen, dass sie in Einklang gebracht werden können mit der Selbstwahrnehmung. Dementsprechend geht Stegemann auch auf philosophische Modelle von Kierkegaard, Heidegger und Sartre zurück. Der Mehrwert dieses Verfahrens ist, dass Stegemann dadurch als Grundvoraussetzung von Dramaturgie die Teilnahme des Rezipienten am Bühnengeschehen begründet: „Wie würde ich mich in dieser oder jener Situation verhalten?“ Stegemanns Dramaturgie zielt also auf die politische oder moralische Funktion der Bühne als einen Ort, auf dem Verhalten spielerisch überprüft wird. Das Problem an einem solchen Konstrukt ist freilich vielfältig: Was ist, wenn die Möglichkeit der Entscheidung weitgehend ausfällt (wie etwa in der antiken Tragödie)? Wer oder was legitimiert das Theater, bestimmte Verhaltensnormen zu thematisieren bzw. zu kritisieren? Und was ist mit all den Inszenierungen, die gar keine Handlung mehr haben (etwa auf dem sog. postdramatischen Theater)? Handelt es sich dann gar nicht mehr um Dramaturgie? Stegemann selbst bietet darauf immerhin indirekt Antworten, da er am Ende verschiedene Reflexionen zum postdramatischen Theater und zur aktuellen Kommunikationstheorie versammelt. So macht das Buch am Ende deutlich, dass Stegemanns Position in der Einleitung nur eine von unterschiedlichen ist. Das mag zunächst verwirren. Man kann es aber auch als Stärke des Buches begreifen – ganz so wie es sowohl Schwäche als auch Stärke des Gegenwartstheaters ist, dass es einen unübersehbaren Pluralismus der Inszenierungstechniken und Regieschulen gibt, was freilich nicht immer nur auf Zustimmung stößt, sondern oft auch Irritation auslöst.