Ach, was sind wir alle immersiv!

Das akademische Leben zeichnet sich ja nicht zuletzt dadurch aus, dass man immer mehr neue Worte hört, von deren Existenz man bis eben noch nichts wusste und von denen der Mensch mir gegenüber jetzt so tut, als ob ich ohne dieses Wort nicht auskommen kann. Ganz oben auf der Liste meiner neuen Lieblingsbegriffe stehen im Moment das Attribut ‚immersiv‘ und sein Substantiv-Pendant ‚Immersion‘. Als ich sie vor einiger Zeit zum ersten Mal hörte, ratterte mein eingestaubter Lateinwortschaft zwar weitgehend sinnfrei ‚immergo, immersi, immersum‘ herunter. Aber was gemeint war, war mir nicht so richtig klar – nur so viel, dass es irgendwie um’s ‚Eintauchen‘ oder auch ‚Versenken‘ gehen muss. Das half mir letztlich aber nicht so recht weiter.

Im Moment nun lese ich von Stefan Münker die kluge, kurze Studie Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien im Web. 2.0 (Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009), und jetzt habe ich das mit der Immersion endlich begriffen. Zu Beginn des Kapitels „Die Öffentlichkeit des Web 2.0“ (S. 73ff.) wendet sich Münker direkt an seine Leser:

„Die Sozialen Medien des digitalen Netzes sind immersiv – anders als die elektronischen Massenmedien: Sie sind als Nutzer Teil des Webs, wenn Sie sich seiner Sozialen Medien bedienen; Sie werden aber kein Teil des Radios oder des Fernsehens, wenn Sie es einschalten, oder der Zeitung, wenn Sie sie aufschlagen.“

Wow! Immersion ist also, wenn ich beim Internet-Buchverkäufer 1-5 Sternchen an ein Buch ranklicke und dazu noch einen Kommentar schreibe, um anderen bei der Kaufentscheidung zu helfen. Da stellt man sich natürlich gleich die Frage, ob Immersion auch dann vorliegt, wenn man in einen Buchladen geht, in dem die Buchhändler wegrationalisiert sind, in dem aber zumindest irgendein einsamer Kunde rumsteht und so nett ist, mir zu sagen, ob ihm das Buch gefallen hat oder auch nicht. Und man fragt sich auch, warum beim Radio keine Immersion vorliegen soll? Also ich zumindest kenne viele von diesen komischen Sendungen, bei denen Menschen im Studio anrufen können, um zu erklären, warum sie das schon richtig finden, dass der Obama den Friedensnobelpreis bekommt und warum sie trotzdem gegen Krieg sind. Und sind Castingshows nicht auch wunderbare Beispiele für Immersion – vom In-der-Schlange-Stehen vor der ersten Sichtung bis zum Voting?

Wenn der Begriff der Immersion einen Sinn jenseits des bloßen Mitmachens haben soll, dann wird man nicht daran vorbei kommen, ihn qualitativ fassen zu müssen. Etwa in dem Sinne, dass Immersion als das ‚Eintauchen ins Medium‘ begriffen wird, das unabhängig von den Anbietern und Herstellern des Mediums stattfindet. Ich denke, dass es eben dieses dezentrale Moment ist, dass das Web 2.0 so interessant macht – auch wenn man sich nicht gleich zu einem Lob seiner Dezentralität aufschwingen sollte, weil es damit im Netz längst nicht so weit her ist, wie das die Netzeuphoriker immer meinen. Das ist dann auch die große Stärke von Münkers Buch, dass er bei aller Begeisterung für die Möglichkeiten sehr reflektiert gerade auch das vermeintlich Revolutionäre des Netzes unter die Lupe nimmt.

5 Responses to Ach, was sind wir alle immersiv!

  1. Steven Thomsen sagt:

    Danke für eine erste Annäherung an „immersiv“ bzw. „Immersion“. Allerdings ist die Abgrenzung zu „interaktiv“ bzw. „Interaktion“ nicht herausgearbeitet. Dass der Beitrag sprachlich höchstens befriegend ist („wird man nicht daran vorbei kommen, ihn qualitativ fassen zu müssen“), sei hier ebenfalls erwähnt.

  2. Christian Raffauf sagt:

    Vielen Dank für die Hilfestellung!
    Ist es eigentlich nur Zufall, dass auch ich auf S. 73 von Stefan Münkers „Emergenz digitaler Öffentlichkeiten“ zum ersten Mal über das Adejektiv „immersiv“ gestolpert bin?

    • kai bremer sagt:

      Tja, wenn du den Begriff dort auch zum ersten Mal gelesen hast, spricht natürlich einiges dafür, dass es sich dort zumindest um einen sehr frühen, wenn nicht den Erstbeleg zumindest im Deutschen handelt – vielleicht wird irgendein Begriffshistoriker für deinen Kommentar in einigen Jahrzehnten dankbar sein 🙂
      Sorry übrigens, dass ich erst jetzt zur Antwort komme!

  3. Edgar sagt:

    Immersion ist mir als Hobby-Mikroskopiker schon lange bekannt, schließlich habe ich schon vor 20 Jahren einen großen HAufen Geld bezahlt, um mir ein Öl-Immersions-Objektiv zu kaufen. Tolle Sache das, und versenkt wird es tatsächlich auch. In Öl zum Beispiel. Hat was echt handfestes immersives. Was Immersion mit Mittun im Netz zu tun hat, weiß ich natürlich nciht. werde mich aber weiterhin nicht in Münklers Bücher versenken, sondern ganz untheoretisch weitersurfen.

  4. kai bremer sagt:

    Heute hat mich ein Kollege darauf hingewiesen, dass die Immersion dabei ist, sich auszubreiten – oder ist es schlicht so, dass es alles immer schon gab. Anregungen auf jeden Fall hier:http://www.uni-siegen.de/lili/ausgaben/2012/lili167.html?lang=de

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