Autorschaft und Wissenschaft

In den vergangenen Tagen habe ich von zwei bedeutenden Erzählern der Gegenwart, von Herta Müller und Ingo Schulze, Reden gelesen, in denen Sie ausführlich über ihr Erzählen berichten. Herta Müller hat den Vortrag Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis aus Anlass der Nobelpreis-Verleihung gehalten. Ingo Schulze hat die Poetikvorlesung Tausend Geschichten sind nicht genug 2007 in Leipzig gehalten; er ist nun im Band Was Wir  Wollen abgedruckt.

Müller und Schulze gehören zu den Autoren, die ich sehr gerne lese, weil sie – bei aller Differenz im Stil – Autoren sind, die Geschichten erzählen, die immer mitten in der Literatur sind, die sich zur Literatur verhalten und davon auch wissen und gerade dadurch ihre Lebendigkeit erhalten. Müller wie Schulze sind zudem Erzähler, die ihre Worte sehr präzise wählen. Wenn man Schulze seine Bücher lesen hört (Schulze habe ich schon oft gehört – herzliche Grüße an die Büchner-Buchhandlung am Prenzlauer Berg!), dann hat man manchmal den Eindruck, dass er die Worte – so unprätentiös sein Stil in den Büchern wie auf der Lesebühne auch ist – regelrecht schmeckt, während er sie spricht. Ähnlich wie das ein Weinliebhaber tut, wenn er einen guten Wein trinkt.

In den beiden Reden denken die beiden Autoren über das letzte Buch (so bei Müller) bzw. das bisherige Werk (so bei Schulze) nach, wie sie dazu stehen und welche Szenen daraus eine Entsprechung in ihrer Erinnerung haben. Das ist hoch aufschlussreich. Beide Autoren pflegen keinen planen Realismus. In Müllers Atemschaukel schafft die dem Roman eigentümliche Sprache der Schilderung des furchtbaren Daseins im Lage einen eigenen Sprachraum. Wir kennen ein solches Verfahren sonst vor allem aus der modernen Lyrik. Die Realität des Lagers ist der Bezugspunkt, aber es geht nicht um eine Dokumentation des Lagers. Bei Schulze ist die Realität ebenso Bezugspunkt, aber zugleich wird diese Realität durch die Realität des literarischen Erzählens gebrochen und reflektiert – etwa durch Fragmentierungen, durch Allegorisierungen oder durch Bezugnahmen auf ältere Erzählformen wie den Briefroman oder den Pikaroroman.

Doch so wunderbar es ist, diese Einblicke in die biographischen Hintergründe des Erzählens zu bekommen, und so großartig Müller und Schulze ihr Verhältnis zum Werk reflektieren: Diese beiden Reden sind zugleich auch ein Horror für jeden Literaturdozenten! Von wegen „Der Autor ist tot!“ Er lebt – und wie! Da predigt man jedes Seminar auf’s Neue, man möge Literatur bitte nicht biographisch lesen, und dann wenden sich die Autoren einfach ungefragt direkt an die Leser und legen ihnen bereitwillig Ausschnitte aus ihrem Leben ans Herz – und wohl jeder, der eins hat, also eins für Literatur, wird die Schilderungen gerne lesen. Doch diese beiden Autoren offenbaren sich nicht einfach nur. Sie geben viel von sich preis. Im Gegenzug aber fordern sie vom Leser Aufmerksamkeit und setzen die Kenntnis der Romane voraus. Diese Reden beanspruchen nicht nur Konzentration, sondern auch Vertrautheit, sie sind regelrecht privat. Schulze spricht am Ende seiner Rede davon, dass „Schreiber und Leser Geschwister“ sind. Unspektakulärer und zugleich treffender kann man das Verhältnis, das in den Reden sonst nur indirekt zum Ausdruck kommt, kaum umschreiben. Die Literaturwissenschaft jedoch, das muss sie sich eingestehen, hat in diesem Verhältnis nichts verloren: Sie darf sich an ihrem Gegenstand begeistern, aber privat sein darf sie mit ihm nicht.

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One Response to Autorschaft und Wissenschaft

  1. Meiner Meinung nach gehört beides sehr eng zusammen und kann nicht getrennt voneinander betrachtet werden.

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