Das poltische Potential der Philologie

„Die Antworten, die die Philologie auf die Provokationen der Literatur geben kann, sind immer auch Antworten auf die Gewalt, denen diese Provokationen ihrerseits antworten. Diese Gewalt kann die kaum merkliche der Rührung, der Überredung, der rhetorischen Erschleichung oder Insinuation sein, sie kann auch die der massiven Bedrohung, Einschüchterung und Brutalisierung durch rhetorische Schemata und thematische Privilegierungen sein. In allen diesen Fällen – also im gesamten Spektrum zwischen einem Wiegenlied und einem Roman des Marquis de Sade – kann sich die Philologie niemals einfach zur Agentin dieser Gewalt machen. Sie ist, als das Medium ihrer Reartikulation, und auch dann noch, wenn sie selbst ein Stück irreduzibler sprachlicher Gewalt ausübt, zunächst deren Suspendierung.“ Werner Hammacher: „Für – die Philologie“, in: Was ist eine philologische Frage? Hrsg. von Jürgen Paul Schwindt. Frankfurt/Main 2009, S. 21-60, hier S. 47.

Viele Literaturwissenschaftler sehen die Philologie als eine Statthalterin des Guten, weil Literatur von ihnen nicht selten als eine Schule der Moral begriffen wird. Das ist eine Spätfolge der Schillerschen  Ästhetik. Man kann diese Meinung auch das Oberlehrer-Syndrom nennen. Hamachers Überlegungen bestreiten nicht die Möglichkeit einer moralischen Verpflichtung der Philologie. Aber sie führen zugleich vor Augen, dass dies nicht zwingend ist: Die Philologie ist für ihn nicht die Steigbügelhalterin der politischen Anliegen des Textes. Vielmehr überführt sie mittels der „Reartikulation“ den Text aus seinem ursprünglichen Kontext in einen Schwebezustand, in dem er vorurteilsfrei befragt werden kann.

Die Konsequenz ist, dass der Text als eigenständiger Sprachraum wahrgenommen wird – und so zunächst frei wird von Vereindeutigungen und Verpflichtungen auf eine Sache. Die Philologie wird dadurch zu einem politischen Geschäft, das sich nicht etwa in den Dienst eines bestimmten politischen oder eben moralischen Anliegens stellt, sondern gerade völlig autonom wird von Parteilichkeit. Wer Parteilichkeit mit politischer Freiheit verwechselt, wird freilich gerade die Autonomie der Philologie  als apolitisch begreifen. Ihn vom Gegenteil zu überzeugen, ist nicht Aufgabe der Philologie.

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