Raoul Schrott, der nicht nur ein hervorragender Schriftsteller ist, sondern auch ein Philologe der S-Klasse, ist jetzt auch noch unter die politischen Theologen gegangen und hat im aktuellen Heft von Lettre international (der findige Leser ahnt gleich, dass der Verfasser dieser Zeilen zu Ostern mal wieder lange Bahn gefahren ist) einen Artikel über die Politik des Heiligen verfasst. In diesem Artikel nimmt er präzise eine Auseinandersetzung mit der Begriffsgeschichte von sacer vor, perspektiviert seine Überlegungen auf das Verhältnis von Heiligkeit und Nationalem und landet schließlich bei der Frage, inwieweit ‚Holocaust‘ die Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten angemessen bezeichnet:
Wo der Eine sich für die Menschen opferte, wurden hier Menschen für einen einzelnen ausgelöscht. Sieht man darin einen kollektiven Opfertod, wird daraus das Schicksal einer spiegelverkehrten Heilsgeschichte. (LI 88, S. 10)
Schließlich geht Schrott zur Frage nach den Möglichkeiten ästhetischen Reagierens auf die Vernichtung ein – selbstverständlich mit der obligatorischen Auseinandersetzung mit Adorno.
Sieht man einmal von den Überlegungen zur Ästhetik ab, so finden sich alle wesentlichen Punkte Schrotts schon in Agambens Homo sacer. Teilweise widerspricht Schrott Agambens Positionen implizit, teilweise übernimmt er sie. Genannt wird Agamben aber an keiner Stelle. Das wirft ein bezeichnendes Licht auf die philologische Praxis von Schrott. Agamben ist bei seinen Überlegungen wesentlich konzentrierter als Schrott (obwohl er zu diesem Gegenstand gleich mehrere Bücher vorgelegt hat) , indem er sich ganz auf die Region des Rechts und des Politischen beschränkt. Welche Konsequenzen seine Überlegungen für das Ästhetische haben, lässt Agamben also unerörtert.
Der Vorteil dieses Verfahrens ist, dass Agamben nicht zu einem seltsamen Chiasmus gelangt wie Schrott, der den Holocaust als ’spiegelverkehrte Heilsgeschichte‘ der Kreuzigung Christi begreift. Agamben hat deutlich gezeigt, dass der Homo sacer eben deswegen getötet werden kann, weil er nicht geopfert werden kann. Deswegen ist ja auch der Begriff ‚Brandopfer‘ so problematisch. Aber die Forschungen anderer zur Kenntnis zu nehmen, das kann halt auch dazu führen, dass die eigenen Überlegungen und Thesen fragwürdig werden – und wer will das schon?