Am Ende von Homo sacer schreibt Giorgio Agamben: „Das Lager und nicht der Staat ist das biopolitische Paradigma des Abendlandes.“ Dieser Satz hat – wie auch Agambens Buch insgesamt – für viel Aufsehen gesorgt, als er publiziert wurde. Das lag wohl nicht zuletzt daran, dass damit die Herrschaftsformen, die Lager gebildet haben und bilden, indirekt miteinander verglichen werden bzw. im Hinblick auf ihren Umgang bei der Entrechtlichung von Menschen befragt werden. Das Problem, inwieweit Auschwitz vergleichbar ist, tritt hier durch die Hintertür in den philosophischen Diskurs.
Ich habe die Vorbehalte gegen Agambens These nie verstanden bzw. weitgehend ignoriert. Das liegt vielleicht auch daran, dass er auf Foucault Bezug nimmt und es ihm nicht etwa um konkrete historische Vergleichbarkeit geht. D.h., die Vorwürfe haben die methodischen und theoretischen Voraussetzungen des Buches viel zu wenig berücksichtigt, wenn nicht gar ignoriert. Aber zum Teil lag das auch daran, dass ich schon vor einiger Zeit eine gewisse Scheu entwickelt habe, mich auf Überlegungen einzulassen, wenn von ‚Paradigma‘ die Rede war. ‚Paradigma‘ war lange Zeit eins dieser unsäglichen Modewörter der Geisteswissenschaften. Es wurde derart inflationär verwendet, dass zumindest ich geneigt war, nicht mehr grundlegend über seine Bedeutung nachzudenken. Meine Scheu führte also zu einer Oberflächlichkeit, die dem Gegenstand nicht angemessen war.
Ende letzten Jahres hat Agamben das Buch Signatura rerum. Zur Methode publiziert. Darin klärt er grundlegend, was er unter einem Paradigma versteht. Das ist ein löbliches Unterfangen, schließlich trägt er damit nicht nur zur Klärung des Begriffs innerhalb seiner Überlegungen bei. Er schafft außerdem die Voraussetzung, dass in Zukunft differenzierter von ‚Paradigma‘ gesprochen werden kann.
Nachdem Agamben es in seinem neuen Buch abschließend in Thesenform riskiert, „verschiedene Züge“ des Paradigmas zu definieren, erklärt er, die von ihm untersuchten Paradigmen seien darauf gerichtet, „eine Serie von Phänomenen intelligibel zu machen, deren Herkunft aus dem Blickfeld des Historikers fast oder ganz entschwunden war.“ (S. 37) Sodann bekennt er sich explizit zu Foucaults Archäologie, was nicht weiter überrascht, wenn man Homo sacer kennt. Schließlich zielt dies Buch eben auf die Archäologie dieses Lebensentwurfs und seine Wandlungen und Pervertierungen in der Neuzeit, indem der Bann als „orginäre politische Beziehung“ (Homo sacer. Frankfurt/M. 2002, S. 190) erschlossen wird.
Ich verstehe aber nicht, wieso das Lager ein Paradigma sein kann, wie Agamben schreibt. Meines Erachtens wäre es plausibler, wenn das ‚heilige Leben‘ in dem Sinne, wie es Agamebn in seinem Buch entwickelt, das Paradigma der Neuzeit abgeben würde. ‚Paradigma‘ wäre dann eine Art Abstrahierung. Das Lager wäre dagegen in der Terminologie Agambens das, was er ‚Phänomen‘ nennt, das auf einen Ursprung zurückgeführt werden kann (im Unterschied zum ‚Paradigma‘).
Ich bin mir nicht sicher, ob da irgendwo in der Argumentation von Agamben eine Ungenauigkeit ist oder ob ich nicht alles richtig verstanden habe. Vielleicht findet sich ja ein Leser, der hier mit einem Kommentar weiterhelfen kann. Auf jeden Fall macht Agambens lobenswerter Versuch, sich zu seiner Methode zu äußern, klar, warum Exegese und Kommentierung unendliche Aufgaben sind, da sie nicht zu einer letztgültigen Klärung führen, sondern vielmehr zu einer immer umfassenderen Differenzierung und Problematisierung.
Enttäuscht von Agambens Buch dürften hingegen all die sein, die sich von seiner Darstellung eine präzise methodologische Handreichung im Sinne einer Handlungsanleitung versprechen. Agamben überprüft philosophische Eckpfeiler seines Denkens mittels der von ihm auch sonst gewählten Verfahren, die wesentlich begriffsgeschichtlich und diskursanalytisch geprägt sind. Wer stattdessen eine systematische Analyse und methodische Fundierung seiner bisherigen Arbeiten lesen möchte, der sollte besser Eva Geulens Einführung über ihn lesen.