Wenn es um Wissenschaft geht, wird gern so getan, als stritte man um die Wahrheit und nichts anderes. Dass es daneben auch um Macht geht, wissen zwar viele Wissenschaftler. Aber wenn sie wissenschaftliche Kontroversen erforschen, berücksichtigen sie das nach meinem Dafürhalten viel zu wenig. Sonst würden sie die Bedeutung der Kontroverse für den wissenschaftlichen Fortschritt vielleicht auch nicht derart positiv bewerten, wie dies vielfach geschieht.
In dem sehr interessanten Aufsatz Die gesellschaftliche Einbettung der Biomedizin: Eine Analyse der deutschen Mediendiskurse (in: Kontroversen als Schlüssel zur Wissenschaft, hg. v. Wolf-Andreas Liebert u. Marc-Denis Weitze, 2006, S. 95-112) stellen Peter Weingart, Christian Salzmann und Stefan Wörmann die These auf:
Der Beginn einer Kontroverse ist durch einen allgemeinen, ethisch begründeten Widerstand gegen neues Wissen/neue Technologie charakterisiert. In der Folge wird der Konflikt zwischen ethischen Werten und dem neuen Wissen allmählich durch den Verweis auf detaillierte Probleme wie z.B. konkrete Formen der Implementierung aufgelöst. Die Technologie bzw. das Wissen wird nicht zurückgewiesen, sondern stattdessen werden die infragestehenden Werte angepasst. (S. 99)
Die drei Verfasser relativieren ihre These nach der Diskussion ihrer Fallstudien überzeugend in der Hinsicht, dass sie festhalten, ein derart klar vorhersagbarer Verlauf sei nicht die Regel. Was sie dagegen nicht relativieren, ist ihr Optimismus in die Anpassungsfähigkeit der öffentlichen Meinung an die Wahrheit der Wissenschaft.
Das liegt gewiss auch daran, dass der Idealentwurf einer Wissenschaftskontroverse gerne als Wettstreit, also als eine Art Wettbewerb um die Wahrheit begriffen wird. Wenn die Wahrheit gesiegt hat, kann die öffentliche Meinung letztlich nicht anders, als sich dieser anpassen.
Einmal davon abgesehen, dass das Neue nicht zwingend zu einer Anpassung der bestehenden Meinung führen muss, so denke ich, dass ein solches Model die Möglichkeit einer strategisch motivierten Äußerung zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung einkalkulieren sollte.
Was ist der eigentliche Zweck der Veröffentlichung von Wissen, bzw. gibt es neben dem primären Zweck (‚die Wahrheit’), noch sekundäre Gründe? Gerade in den Biowissenschaften geht es um erhebliche Forschungsmittel und direkt oder indirekt um die Frage des Einflusses der Politik auf die Forschung – insbesondere dann, wenn diese ethische Fragen berührt. Es geht also konkret um Macht und um das Zurückdrängen von Politik und öffentlicher Meinung aus dem wissenschaftlichen Diskurs. Das kann man sich vielleicht als Wissenschaftler wünschen, nicht aber als Bürger.
Auf dieses Problem weist im genannten Sammelband insbesondere Wolfgang C. Goede hin (Keine Innovation ohne Repräsentation: Die Zivilgesellschaft als neuer Akteur in der Wissenschaft, ebd. S. 165-178). Er betont, wie etwa NGOs sich in wissenschaftliche Diskurse einmischen und diese entschieden verändern. Es handelt sich dabei um ein politisches Engagement, das zu begrüßen ist (auch wenn man nicht vergessen sollte, dass die Motive der vermeintlichen Kritiker ebenso zu hinterfragen sind).
Ob die ethische oder auch politisch motivierte Kritik tatsächlich ein derart neues Verfahren ist, das erst unter den Voraussetzungen des gegenwärtigen Wandels geschehen kann (wie Goede meint), sei dagegen dahingestellt. Im 18. Jahrhundert sprach man zwar noch nicht von Zivilgesellschaft, aber der ethische Anspruch, mit dem Aufklärer etablierte Größen der Wissenschaft angingen, war im Grunde schon derselbe.
Man kann von der Akteur-Netzwerk-Theorie halten was man will, aber gerade in diesem Punkt bietet sie sicherlich das bessere Vokabular, um die Beteiligung verschiedener Interessen an der Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache – mithin auch der Kontroversen um sie zu beschreiben.