Irgendwann nach knapp 400 Seiten schließt sich ein kleiner Kreis. Muna erinnert sich, wie sie vor einigen Jahren unter einem Bett lag, in dem ihre Schwester gerade mit einem Mann schlief. Eine komische Szene, die zugleich ihre Schutzlosigkeit vor Augen führt und die von ihr erwartete Sprachlosigkeit. Muna will schreien und traut es sich nicht.
Mit Muna möchte man in diesem Moment glatt ein wenig Mitleid haben, wenn von ihr nicht so dermaßen stilisiert und gestelzt erzählt würde. Die Geschichten von Muna, aber auch die vom Goethe-Forscher Martin, der die meiste Zeit an der amerikanischen Ostküste zubringt, sind in Thomas Lehrs Roman September in eine dahinfließende Wortfolge gegossen, die Einblicke erlauben in verschiedene Figuren – allen voran zwei Väter, die ihre Töchter verlieren, einmal 9/11, einmal einige Jahre später im Irak. Aber die avancierte, atemlos wirkende Schreibform, die durch Umbrüche und Leerzeilen nur selten ein wenig Luft lässt, hat mich so gar nicht überzeugt. Und übrigens andere auch nicht. Wohlgemerkt – ich habe nichts gegen experimentierfreudiges Erzählen. Nizon etwa spielt in Das Jahr der Liebe mit dem Verhältnis von Interpunktion und Absatz sehr geschickt, sogar so geschickt, dass man es gar nicht bemerken muss. Bei Lehr wirkt das dagegen vom ersten Absatz an unheimlich gewollt, weil er mit den immer gleichen Mitteln arbeitet: Erzählen ohne Punkt und Komma, nur selten mal ein Kalauer: „Krieg als Fortsetzung des Computerspiels mit verheerenden Mitteln“ (S. 352).
Ich habe mich sehr auf den Roman gefreut, schließlich war er in der FAZ vielversprechend rezensiert worden. Als mir dann beim Lesen rasch klar wird, dass sich der Roman mit Goethes West-östlicher Divan auseinandersetzt, freue ich mich auf die Lektüre um so mehr. Aber wie das so ist, manchmal treffen Kritiken schlicht nicht den eigenen Geschmack und vor allem ist die Enttäuschung größer, wenn die Erwartung hoch ist. Statt des Eindrucks, einen starken Roman gelesen zu haben, bleibt am Ende nur der Eindruck, dass der Verzicht auf Punkt und Komma und ein paar Anspielungen noch keine intelligente Annäherung an den 11. September ausmachen.
Vielleicht liegt das daran, dass Lehr in seinem Roman die Frage nach dem Status der Religion nicht stellt. Stattdessen macht er sich über die gewiss schlichte Religiosität des amerikanischen Präsidenten lediglich lustig (und zugleich über dessen nicht besonders große Sprachbegabung):
Eswarsehremotionalfürmich
ichhabegebetet
während
ICH
herumging (S. 334)
Natürlich ist es angesichts des wohlfeilen Antiamerikanismus deutscher Intellektueller schon ein Fortschritt, wenn G.W. Bush nicht als bloßer Schwachkopf dargestellt wird. Aber ist dieser Fortschritt wirklich groß, wenn aus ihm ein Egozentriker wird, dessen religiöses Missionsbewusstsein derart verharmlost wird?