Das Jahr 1979 könnte sich eines Tages als das wichtigste und folgenreichste seines Jahrhunderts erweisen. Denn damals wurde im Iran bewiesen, daß der Säkularisierung genannte Prozeß umkehrbar ist und nicht, wie man bis dahin glaubte, unumkehrbar. […] Seither hat es vielerlei Phänomene der Wiederkehr gegeben, als bedeutsamstes die Wiederkehr der Religion.
Das schreibt Henning Ritter in seinem Buch Notizhefte (Berlin 2010, S. 251). Diese Wiederkehr bzw. Rückkehr bzw. Renaissance ist bekanntlich schon in den 90ern von Derrida und anderen beobachtet worden und hat nach 9/11 auch außerhalb der Kulturwissenschaften viel Interesse gefunden. Trotzdem hat mich Ritters Hinweis hellhörig gemacht, denn er ist vom Grundgestus her typisch, weil er sich im Umgang mit dieser ‚Wiederkehr‘ ganz und gar unbeteiligt gibt.
Dieser Grundgestus findet sich schon bei Christian Krachts gewiss viel zu einseitig rezensiertem Roman 1979. Immer wenn diese ‚Wiederkehr‘ festgehalten wird (sei es literarisch wie bei Kracht, sei es essayistisch-reflektierend wie bei Ritter oder letztlich auch Derrida), dann wird so getan, als habe man selbst damit gar nichts zu tun, als stehe man außerhalb des Geschehens. Das ist ein typisch wissenschaftlicher Grundgestus (und auch einer des Dandys, s. Kracht!), der zumindest im Fall der Wissenschaft wohl sinnvoll ist, die Betrachtung zumindest leichter macht. Aber er birgt die Gefahr in sich, dass diese ‚Rückkehr‘ als etwas Fremdes ausgestellt wird, von dem man sich besser fern hält. Doch kann man diese Ereignisse dann auch wirklich begreifen?
Bemerkenswert an dieser Distanznahme ist, wie sie sich zu dem verhält, was Ritter vorsichtig als den ‚Säkularisierung genannten Prozeß‘ umschreibt. Mit seiner Formulierung kommt, so scheint mir, ein Erstaunen zum Ausdruck, das feststellt, dass das, was bisher als eine Art Axiom der Kulturentwicklung begriffen wurde – eben die Säkularisierung -, nicht derart linear vonstatten geht, wie meist angenommen wurde und noch wird. So kann dann 1979 zu einem Schlusspunkt der Säkularisierung werden.
Angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen mag die Hoffnung aufkommen, dass die ‚Säkularisierung‘ doch noch gegen die ‚Rückkehr der Religion‘ obsiegen wird. Dann wäre, anders als Ritter meint, 1979 nur mehr als ein Moment der Stagnation anzusehen (und 9/11 beispielsweise auch). Da gegenwärtig vermutlich niemand absehen kann, wie es wird, fehlen bezeichnenderweise generalisierende Äußerungen, die eine solche Prognose wagen. Vielleicht ist deswegen eben jetzt ein guter Augenblick, um sich klar zu machen, wie wenig plausibel es ist, historische Entwicklungen linear zu denken. Meine beiden Ex-Kollegen Martin Treml und Daniel Weidner setzen deswegen schon seit einiger Zeit auf ein Konzept, das sie ‚Dialektik der Säkularisierung‘ nennen.
Wenn man sich aktuelle Berichte aus Nordafrika anschaut oder liest, so scheint sowohl von 1979 als auch von 1989 Faszination auszustrahlen. Wenn am Ende ein Demokratisierung stehen sollte, mögen sich die Freunde der Säkularisierung vielleicht gemeinsam mit Candide zurücklehnen und 1979 als Fußnote der Geschichte abtun. Ob sie aber ein für alle mal Recht behalten, bleibt dahingestellt – zumal ja auch die vermeintlich säkulare Welt nicht zwingend eine ‚gute‘ ist. Zumindest in dieser Hinsicht ist Krachts Roman viel klüger als die meisten Theorien – vielleicht hatten deswegen die meisten Kritiker mit dem Roman ihre Schwierigkeiten.
In diesem Zusammenhang ist es allerdings wichtig, die Verwendung des Begriffs der Säkularisierung genauer zu bestimmen. Während er in politischen Diskursen doch eher mit Konzepten des Laizismus verbunden wird, der das Religiöse zu einer Privatangelegenheit macht und aus politischen („säkularen“) Begründungszusammenhängen verbannt, so verbindet sich doch mit der philosophischen Debatte, wie sie in Blumenberg und Löwith ihre Antipoden fand, die grundsätzliche Frage, ob Säkularisierung eine Emanzipation oder Okkupation von theologischen Absolutismen sei. Mit anderen Worten: „Verweltlicht“ der Mensch im Laufe der Geschichte sich selbst oder nur seine religösen Narrative?
Ich kenne Ritters und Krachts Position nicht, aber unter diesem Gesichtspunkt lassen sich die Ereignisse 1979, 1989 und 2011 durchaus unterschiedlich bewerten.