Vor längerer Zeit habe ich hier über Judith Zanders Lyrik-Debut oder tau geschrieben. Vor ungefähr zwei Jahren ist dann ihr zweiter Lyrik-Band manual numerale bei dtv erschienen. Viel zu spät bin ich jetzt ich endlich dazu gekommen, ihn zu lesen. Er ist wieder eine Freude, ja an manchen Stellen ein richtiger Spaß – durch komische Reime zum Beispiel: ‚teils‘ auf engl. ‚files‘. Oder durch nur einen Vers lange Gedichtchen – Sentenzen sollte man wohl besser sagen -, die an Selbstironie nicht zu überbieten sind:
heute schrieb ich dir ein langes mir gefallendes gedicht
Zu diesem direkten, selbstreflexiven Stil passt gut, dass Zander ihre neuen Gedichte dem Titel nach als Manual begreift. Das bedeutet aber nicht, dass man sich das Buch wie ein Tagebuch mit Datumsangaben vorstellen soll. Auch ist es nicht nach Erscheinungsorten sortiert. Stattdessen steht oben auf jeder Seite die Zahl der Verse, die das je folgende Gedicht hat. Da das Buch auch keine Seitenzahlen kennt, sind diese Zahlen das einzige Ordnungskriterium – aber eben eins, dass für die Orientierung des Lesers an sich völlig überflüssig ist. Seitenzahlen helfen mir, bestimmte Stellen in einem Buch wiederzufinden. Wenn ich ein literarisches Notiz- oder Tagebuch eines Dritten lese (wie etwa das von Max Frisch), beziehe ich Datums- oder Ortsangaben auf den Autor. Zanders Angaben zur Zahl der Verse scheinen im Unterschied zu all dem völlig überflüssig: Ob ein Gedicht kurz oder lang ist, sehe ich auf Anhieb, wenn ich die Seite aufschlage. Und ob ein Gedicht z.B. 26 oder 30 Verse hat, dürfte für die Entscheidung, das Gedicht zu lesen, kaum ausschlaggebend sein.
Was das Zahlenspiel gleichwohl bewirkt (zumindest, als ich die Gedichte gelesen habe), ist eine größere Konzentration auf die Form (zumal es keine Überschriften gibt). Ich habe immer wieder mal überprüft, ob die Zahl, die da oben steht, auch wirklich der Zahl der Verse entspricht. Zugleich unterstellt man wegen dieser Zahl dem gesamten Buch einen sehr persönlichen Zusammenhang. Die Zahlen sind rot, anders als die Gedicht-Texte. Das erinnert trotz der serifenlosen Schrift ein wenig an ein Notizheft, durch das man später noch mal zur eigenen Orientierung mit einem anderen Stift durchgeht und über dessen formale Bedingungen man sich einen Überblick verschaffen will.
Diesen persönlichen Eindruck unterstützt, dass am Ende des Buches ein „manual“ im Manual steht, in dem zahlreiche Erläuterungen, gewissermaßen Erinnerungsnotizen, zu finden sind. Sie beziehen sich auf kursive Stellen in den Gedichten, die den intertextuellen Kosmos von manual numerale markieren: Wörter, Phrasen und Sätze von anderen Schriftstellern vom Barock über Droste-Hülshoff, Sylvia Plath, die von Zander übersetzt wurde, bis Patti Smith. Allerdings sollte man deswegen nicht annehmen, dass auf diese Weise alle intertextuellen Bezüge erfasst werden. Es finden sich noch zahlreiche andere, die klug eingearbeitet sind und wie schon bei oder tau belegen, dass Judith Zanders literarischer Kosmos ein großer ist, der vom Barock bis zur Gegenwart reicht, von kanonischen Autoren bis zur Pop-Kultur.
In oder tau setzen sich viele Gedichte mit Zanders Heimat, Deutschlands Nordosten, auseinander, wie der Titel schon andeutet. Ein solches geographisches Zentrum hat manual numerale nicht, auch wenn sich weiterhin einzelne niederdeutsche Wendungen finden. Im Gegenzug scheinen mir nun mehr Gedichte in dem Sinne politischer als der Debutband zu sein, als dass jetzt sowohl mittels Form als auch Inhalt gesellschaftliche Frage thematisiert werden. So findet sich ein zunächst privat anmutendes Gedicht, in dem sich ein Ich über eine „sie“ äußert, die die „Komplizin“ ist und das Ich nicht verraten wird. Das kurze Gedicht besteht aus drei Strophen à drei Versen, die sich alle drei reimen. Durch deren jambischen Vierheber samt der männlichen Kadenzen mutet das Gedicht ähnlich filigran an wie ein Marschfoxtrott in der Tanzschule. Diese metrische Grobmotorik passt aber wunderbar zum kämpferischen Schluss, der fast schon wie ein Schlachtruf klingt:
doch fechten werden wir zu zweit
gegen die ungehobeltheit
binärer gegensätzlichkeit
Allerdings muss ich gestehen, dass diese metrisch etwas brachiale Kritik an heteronormativen Geschlechtsentwürfen nicht der eigentliche Grund ist, warum ich Zanders zweiten Lyrikband (sie hat außerdem bisher noch einen Roman geschrieben) so gerne gelesen habe.
Vor allem hat mich begeistert, wie sie sich mit der deutschen Barock-Literatur auseinandersetzt. Dass sie die gut kennt, hat schon oder tau gezeigt. Im manual numerale aber ist Zander noch vielfältiger geworden. Sie zitiert eine ganze Reihe prominenter Barock-Dichter (Gerhardt, Rist, Sibylla Schwarz, Zesen) und legt ein Sonett vor (allerdings nicht in Alexandrinern). Sie stellt sich der bukolischen Barockdichtung, wenn sie einen „landschaftsgarten“ besingt, in dem es „natürlich zugeht wie | auf arkadiens karten“, oder wenn das Ich eines anderen Gedichts eine Gruppe, ein Wir, auffordert, sich „gegensichtig [!] | schäfernamen“ zu geben und sich „hinter | pluralen clarinden-träumen“ hervorzurufen [sic]. Dabei wirken die Gedichte nie oberlehrerhaft oder angestrengt. Vielmehr sind Zanders Gedichte immer wieder sehr locker und wie nebenbei komponiert, so dass man sie leicht in ihrem Facettenreichtum unterschätzt:
ich bin die more-soldatin
und zieh von früh bis spat gen
utopia
Selbstverständlich erinnert Zander mit diesem Gedicht nicht nur an den Begründer der utopischen Literatur, Thomas Morus. Zugleich ahmt sie das Moorlied der KZ-Häftlinge Börgermoor nach („Wir sind die Moorsoldaten | und ziehen mit dem Spaten | ins Moor.„) und daran, dass die utopische Sehnsucht, die das Ich als Gefolgsfrau von Morus („more-soldatin“) artikuliert, keine Erfüllung finden wird. So stimmt denn das manual numerale oft nachdenklich, auch wenn es seine Leser in vielen Gedichten und mittels spannender Formverspieltheiten gerne schmunzeln lässt und ästhetisch herausfordert. Ein Buch also, das nicht nur zahlreich ist, wie der Titel verspricht, sondern auch vielfältig wie nur wenige andere Werke der aktuellen Lyrik.