Denis Thouard: Die Antinomie von Recht und Philologie, in: Geschichte der Germanistik 45/46 (2014), S. 88-96, hier S. 93:
Die Philologie dagegen [im Unterschied zum Recht, KB] kann sich Zeit nehmen, weil sie sich auf der Basis der Emendatio entwickelt. Sie nimmt eine gegebene Vulgata und verbessert sie. Sie geht bis zum Verstehen der Texte, das eine unendliche Aufgabe ist [DT verweist hier auf Schleiermacher]. Sie schreitet durch Kontroversen, Auseinandersetzungen, die die Gemeinschaft ihres wissenschaftlichen Feldes bezeugen. Sie kann sich auf die grammatischen Normen einer Sprache stützen, was aber nicht reicht, um die Einzigartigkeit eines Werkes zu ergründen. Deswegen wird der Philologe versuchen, der sich zur Hermeneutik aufschwingt, die Eigengesetzlichkeit eines Kunstwerks oder eines Texts nur aus sich selbst zu entwickeln. Wenn er keinen direkten, intuitiven oder divinatorischen Zugang zu dieser Gesetzmäßigkeit des Werkes in Anspruch nehmen kann, muss er mit bloßen Vermutungen verfahren. Die Philologie ist folglich eine Konjekturalwissenschaft.